USA greifen Dschihadisten im Nordirak an
Wenn wir nicht bald eingreifen, werden wir es mit einer humanitären Katastrophe unvorstellbaren Ausmaßes zu tun haben", drängte ein amerikanischer Kongressabgeordneter US-Präsident Obama diese Woche zu sofortiger militärischer Hilfe für den bedrängten Irak. Nach langem Zögern gab Obama gestern grünes Licht, am frühen Nachmittag flog die US-Luftwaffe erste Angriffe gegen Stellungen der vorrückenden Dschihadisten der IS ("Islamischer Staat").
Es ist eine Art Feuerwehraktion: Den letzten Ausschlag für dieses lange hinausgezögerte Eingreifen der USA hatten die kurdischen Truppen im Nordirak gegeben, die zuletzt gefährlich in die Defensive geraten waren. Am Freitag musste angesichts der rasch vorrückenden IS-Milizen ein erstes Ölfeld (Barda Rash) in der autonomen Kurdenregion geschlossen werden.
Schon standen Ängste im Raum, die radikalen Islamisten könnten bis Erbil, in die Hauptstadt der Kurdenregion, vorpreschen. Dort aber liegt auch für die USA die Rote Linie: Ein Angriff der Islamisten auf Erbil müsse auf jeden Fall verhindert werden. Amerikanische Soldaten aber, so versicherte Obama erneut, würden keinen Fuß mehr auf irakischen Boden setzen. "Für die Krise im Irak gibt es keine amerikanische militärische Lösung", beteuerte der US-Präsident. Die einzige dauerhafte Lösung für das Land liege, so Obama, in einer Versöhnung der verschiedenen Volksgruppen, der Bildung einer neuen Regierung in Bagdad und der Stärkung der irakischen Armee.
In letzter Minute
Rettung in letzter Minute brachten die amerikanischen Luftangriffe auch Tausenden Flüchtlingen im Sindschar-Gebirge im äußersten Nordwesten des Irak. Die Kämpfer der Terrormilizen "Islamischer Staat" hatten dort tagelang alle Zugänge besetzt. Sie belagerten etwa 50.000 Flüchtlinge, die sich in Panik vor den vorrückenden radikal-islamischen Kämpfern auf den kargen Gebirgszug gerettet hatten. Dort harrten die Geflohenen, alle Mitglieder der kurdischen Minderheit der Jesiden, ohne Hilfe aus. Es gab keine Nahrung, keine Medikamente – und das Schlimmste: kein Wasser. Mindestens 70 Menschen sollen laut UNO dort gestorben sein. Laut offiziellen irakischen Stellen handelt es sich bei den Eingeschlossenen um Gefangene der IS.
Obama zur humanitären Lage im Irak
Zeitgleich mit den US-Luftangriffen gegen die IS-Stellungen nahe Erbil kämpften kurdische Peschmerga-Milizen gestern Nachmittag die Straße zum belagerten Sindschar-Gebirge frei und retteten Tausende der eingeschlossenen Flüchtlinge.
Flucht nach Syrien
Mehr als 1,2 Millionen Menschen im Norden des Irak hat der Vormarsch und der Terror der IS-Milizen in die Flucht getrieben. Christen und muslimische Minderheiten retteten sich nach Norden, in die Kurden-Region, in die Türkei, sogar ins Bürgerkriegsland Syrien.
Aber auch in Syrien greifen die IS-Milizen weiter an. Am Freitag schlugen sie mit einer Serie von Selbstmordattentaten die syrische Armee von einer Militärbasis der nordsyrischen Stadt Raqqa in die Flucht.
Und auch im Libanon beginnen die IS-Kämpfer mit Tod und Terror einzusickern. Das sunnitische Saudi-Arabien hat dem Libanon daraufhin eine Milliarde Dollar an Waffenhilfe versprochen, um die IS zu bekämpfen.
Bei den oppositionellen Republikanern stieß Obamas Strategie auf Kritik. Zwar seien die Luftangriffe auf Extremisten "angemessen", erklärte der republikanische Vorsitzende im Repräsentantenhaus, John Boehner, allerdings sei er "bestürzt über die anhaltende Abwesenheit einer Strategie" des Weißen Hauses, um die "große Bedrohung" durch die Dschihadisten zu stoppen.
Auch im Senat warfen Republikaner dem Präsidenten eine "Politik der halben Sachen" vor. "Wir brauchen eine strategische Herangehensweise, nicht nur eine humanitäre", erklärten die Senatoren John McCain und Lindsey Graham. Die beiden einflussreichen republikanischen Außenpolitiker verlangten eine Ausweitung der Luftangriffe auf IS-Stellungen im Irak und im benachbarten Syrien. Außerdem müssten die Gegner der Dschihadisten mit Waffen ausgerüstet werden. "Wenn es jemals einen Zeitpunkt gegeben hat, unsere desaströse Politik im Nahen Osten zu überdenken, dann ist er jetzt gekommen", erklärten die Senatoren.
Vor mehr als elf Jahren ordnete der damalige US-Präsident George W. Bush den Einmarsch in den Irak an, um Machthaber Saddam Hussein zu stürzen. Die umstrittene Entscheidung kettet beide Staaten bis heute aneinander. Mit der Blitzoffensive der IS-Jihadisten sehen sich die USA erneut zum Eingreifen gezwungen.
2003: Militäreinsatz beginnt
20. März Der US-Militäreinsatz gegen den Irak beginnt. Die Bush-Regierung begründet den Krieg mit Massenvernichtungswaffen, die Saddam Hussein besitzen soll. Später muss sie zugeben, keine solche Waffen gefunden zu haben.
9. April Die US-Truppen stehen in Bagdad, die irakische Führung ist gestürzt. Wenige Wochen später erklärt Bush die Kämpfe im Irak für beendet. Die meisten der fast 4500 US-Soldaten, die im Irak ihr Leben lassen, werden aber nach dem offiziellen Kriegsende sterben.
13. Dezember Saddam Hussein wird in einem Versteck nahe seiner Heimatstadt Tikrit gefasst.
2004: Bilder aus Abu Ghraib
28. April Bilder von irakischen Gefangenen aus dem Gefängnis Abu Ghraib werden veröffentlicht, auf denen US-Soldaten die Iraker erniedrigen und misshandeln.
2006: Al-Kaida & Saddam Hussein
7. Juni Die US-Armee tötet den Chef des Terrornetzwerks Al-Kaida im Irak, Abu Moussab al-Zarkawi.
5. November: Saddam Hussein wird von der irakischen Justiz zum Tode verurteilt. Das Urteil wird Ende des Jahres durch Erhängen vollstreckt.
2007: 170.000 Soldaten im Irak
10. Jänner Angesichts der anhaltenden Gewalt im Land kündigt die US-Regierung eine Aufstockung der US-Truppen um 30.000 Soldaten an. Im Laufe des Jahres erreicht die US-Truppenpräsenz im Irak mit mehr als 170.000 Soldaten ihren Höchststand.
27. November Das irakische Parlament stimmt einer Vereinbarung zwischen Washington und Bagdad über den Abzug der US-Truppen zu. Der letzte US-Soldat soll das Land Ende 2011 verlassen.
2009: Green Zone
1. Jänner Nach mehreren Provinzen übernehmen die irakischen Sicherheitskräfte auch die Verantwortung für die "Grüne Zone" in Bagdad, das Regierungs- und Botschaftsviertel. Ein halbes Jahr später ziehen sich die US-Truppen aus den Städten zurück.
2010: US-Kampfbrigade verlässt den Irak
19. August Die letzte US-Kampfbrigade verlässt den Irak über die Grenze zu Kuwait. Der Kampfeinsatz "Operation Iraqi Freedom" wird im September durch die Mission "Operation New Dawn" ("Neubeginn") ersetzt. Der neue Fokus liegt auf der Unterstützung irakischer Sicherheitskräfte.
2011: Abzug der US-Soldaten
3. August Die irakische Führung (irakischer Ministerpräsident al-Maliki, li.) erklärt sich zu Verhandlungen über einen Verbleib von US-Truppen (hier US-Admiral Mike Mullen, re.) auch nach Ende 2011 bereit. Bagdad weigert sich dann aber, den US-Soldaten Schutz vor Strafverfolgung zu gewähren.
21. Oktober Nach dem Scheitern der Verhandlungen kündigt US-Präsident Barack Obama den Abzug der verbleibenden Truppen bis Jahresende an.
18. Dezember Der Konvoi mit den letzten US-Soldaten verlässt den Irak in Richtung Kuwait.
2014: "Gezielte Militäraktionen" im Irak
4. Jänner Kämpfer der Extremistengruppe Islamischer Staat im Irak und in Großsyrien (ISIS) nehmen Falludscha ein und bringen Teile von Ramadi unter ihre Kontrolle.
27. Jänner Das Pentagon informiert den Kongress über den geplanten Verkauf von Apache-Kampfhubschraubern an den Irak. Außerdem wollen die USA F-16-Kampfjets und Hellfire-Raketen an Bagdad liefern. Anfang März sind Medienberichten zufolge US-Elitesoldaten nach Jordanien verlegt worden, um dort irakische Einheiten im Anti-Terror-Kampf auszubilden.
13. Juni Angesichts des Vormarsches der ISIS-Kämpfer auf Bagdad kündigt Obama die Prüfung "einer Reihe von Optionen" an. Den Einsatz von Bodentruppen schließt der Präsident aus, die Möglichkeit von Drohnenangriffen hält er sich offen.
14. Juni Das Pentagon kündigt die Entsendung des Flugzeugträgers "USS George H.W. Bush" in den Golf an.
19. Juni Die USA sind Obama zufolge bereit, "gezielte und präzise Militäraktionen" im Irak auszuführen. "Bis zu 300" US-Soldaten sollen die irakische Armee zudem als Berater im Kampf gegen die Dschihadisten unterstützen.
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