Strom der Flüchtlinge halten Zäune nicht auf

Politik und Polizei wollen den Weg der Flüchtlinge über Ungarn blockieren. Doch Stacheldraht und große Worte nützen wenig.

Die Kinder klettern unten durch, die Erwachsenen legen Decken darüber, um sich so vor den Stacheln zu schützen – und wer entsprechend ausgerüstet ist, schneidet das Ding einfach auseinander. Eine stählerne, fast vier Meter hohe Barrikade wollte Ungarn an seiner Grenze zu Serbien errichten. Vorerst aber ist daraus – von ein paar Dutzend Vorzeige-Metern abgesehen – lediglich eine gerade einmal ein Meter hohe Stacheldrahtrolle geworden. Für Menschen, die bereits die Hölle eines nahöstlichen Krieges, eines Flüchtlingslagers und eine waghalsige Reise durch die Türkei und den Balkan hinter sich gebracht haben, ist das ein überwindbares Hindernis. Das machen allein die Zahlen deutlich: Mehr als 2500 Menschen pro Tag überqueren derzeit die Grenze nach Ungarn, Tendenz stark steigend. Und der Strom reißt nicht ab: Die libysche Küstenwache gab am Freitag bekannt, dass 200 Leichen – darunter auch von Kindern – an der Küste angespült worden sein. Wann sie ertranken ist unklar. Ebenso, ob sie alle gemeinsam auf einem Schiff waren. Eine Tragödie, von der niemand Notiz genommen hatte.

Bilder: "Es sind Menschen, die da kommen"

Strom der Flüchtlinge halten Zäune nicht auf

A migrant boy cries as he walks on a railway track
Strom der Flüchtlinge halten Zäune nicht auf

Migrants walk on a railway track after they crosse
Strom der Flüchtlinge halten Zäune nicht auf

Syrian migrants cross under a fence as they enter
Strom der Flüchtlinge halten Zäune nicht auf

A migrant boy walks on a railway track after he cr
Strom der Flüchtlinge halten Zäune nicht auf

Hungarian policemen arrest a Syrian migrant family
Strom der Flüchtlinge halten Zäune nicht auf

Syrian migrants cross under a fence as they enter
Strom der Flüchtlinge halten Zäune nicht auf

Migrants walk on a railway track after crossing th

Kurzer Stillstand

Die Routen, die die allermeisten nehmen, sind seit Monaten unverändert (siehe Grafik unten). Von Griechenland über Mazedonien und Serbien an die ungarische Grenze. Nur ein Mal kam der Strom zum Stillstand, als Mazedonien mit der Armee an der Grenze aufmarschierte.

Als man diese einen Tag später unter dem wachsenden Druck wieder öffnete, kamen einfach einen Tag lang doppelt so viele. Auch Serbien durchqueren die Flüchtlinge inzwischen ohne nennenswerte Verzögerungen. Die Blockaden in Mazedonien haben den Zustrom genau einen Tag verlangsamt – und danach verdoppelt.

Leere Drohungen

In Budapest übt sich Premier Orbans nationalkonservative Regierung unaufhörlich in martialisch wirkenden Ankündigungen. Man werde die Armee an der Grenze einsetzen, Spezialeinheiten der Polizei mit dem bedrohlichen Titel "Grenzjäger" stünden demnächst bereit, außerdem bereitet man ein Gesetz vor, das für illegalen Grenzübertritt nach Ungarn Haft-, statt wie bisher kleine Geldstrafen vorsieht.

Allzu weit dürfte Orban mit all diesen Plänen allerdings nicht kommen. Für den Einsatz der Armee wäre ein Verfassungsgesetz nötig, die nötige Zweidrittelmehrheit hat Orban derzeit nicht. Das neue Gesetz kommt voraussichtlich nur in einer stark abgeschwächten Version: Lediglich die mutwillige Zerstörung des Grenzzauns gilt dann als schwere Straftat, nicht ihn zu überwinden.

Außerdem hat Budapest, so die Einschätzung eines österreichischen Sicherheitsexperten vor Ort, wenig Interesse daran, den Flüchtlingsstrom an seiner Grenze zu blockieren. Man wolle diesen nur unter Kontrolle bringen. Die Flüchtlinge sollen aufgegriffen und dokumentiert werden. Da fast keiner von ihnen das danach eingeleitete Asylverfahren in Ungarn abwartet, lässt man sie weiterziehen. Seit Deutschland angekündigt hat, die Dublin-Regeln aufzuheben und Flüchtlinge aus Syrien nicht mehr zurückzuschicken, ist man das Problem damit los.

Halbierung von Sozialleistungen, Abschiebung bei Arbeitslosigkeit, Razzien auf Baustellen und bei Putzfirmen: Die konservative Regierung kündigt derzeit im Stakkato harte Maßnahmen gegen illegale Einwanderung und Missbrauch des Sozialsystems an. Man ist politisch unter Druck geraten, seit klar geworden ist, dass aus dem beim ersten Amtsantritt 2010 abgegebenen Versprechen, die Zuwanderung auf unter 100.000 Personen jährlich zu beschränken, nichts geworden ist. Auch 2014 verzeichnete Großbritannien mehr als 600.000 Zuwanderer – Tendenz weiter steigend.

Asylwerber, wie sie etwa in Österreich die größte Gruppe darstellen, spielen auf der Insel eine geringe Rolle. In den ersten sechs Monaten 2015 waren das weniger als 10.000. Von denen wird allerdings fast die Hälfte als Flüchtlinge anerkannt.

Viel größer sind die anderen Gruppen von Zuwanderern. Die größte, mit fast 300.000 Personen, sind Arbeitsmigranten, die entweder schon eine fixe Jobzusage haben oder aber aufgrund ihrer Ausbildung oder ihrer Fähigkeiten als tauglich für den Arbeitsmarkt qualifiziert werden. Diese Anforderungen sind allerdings gering. Großbritannien hat einen weit größeren Billiglohnsektor als andere Staaten Westeuropas. Firmen suchen ständig, wenn auch miserabel bezahlte und kaum abgesicherte Arbeitskräfte. Mehr als 30.000 Rumänen und Bulgaren sind so im ersten Halbjahr 2015 auf dem britischen Arbeitsmarkt untergekommen. Noch mehr etwa aus Indien.
Ärmelkanal unwichtig

Dazu kommt eine naturgemäß nur grob abschätzbare Zahl illegaler Migranten. Experten kalkulieren derzeit mit etwa 600.000 Personen, die sich illegal in Großbritannien aufhalten.

Über den Ärmelkanal-Tunnel aus Frankreich, der in den letzten Wochen für Aufregung gesorgt hat, kommen dabei die allerwenigsten. Die Mehrheit der illegalen Einwanderer kommt als Touristen aus Ländern des britischen Commonwealth, also etwa Indien oder Bangladesch, und bleibt einfach illegal im Land. Auch viele private Colleges sollen weniger Bildung als vielmehr Studentenvisa an Ausländer vermitteln, die in Wahrheit schwarz arbeiten.

In Großbritannien gibt es keine Meldepflicht und lockere Bestimmungen für befristete Arbeitsverträge. Das macht die Suche nach Schwarzarbeitern und ihren kriminellen Arbeitgebern schwierig.

Achthunderttausend. So viele Flüchtlinge hat das Land seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr gesehen, auch am Höhepunkt der Balkankrise waren es nur halb so viele. Seit das Innenministerium die Flüchtlingsprognose für 2015 nach oben revidierte, hat sich in Deutschland einiges geändert: Der Ton wird schärfer, die Überforderung der Akteure sichtbarer.

Mehr als 170 Anschläge aus Asylunterkünfte hat man heuer bereits registriert, die Eskalation in Heidenau ist dabei der jüngste Höhepunkt. Doch nicht nur die rechten Umtriebe sorgen für Spannungen, auch bei den Behörden spießt es sich. Alle Erst-aufnahmezentren sind überbelegt, in Dresden stehen Zeltstädte, in denen unhaltbare hygienische Zustände herrschen. In Passau, wo die meisten Flüchtlinge ankommen, ist die Polizei derart überfordert, dass sie nicht mehr alle Ankommenden registriert. "Deutschlands Lampedusa" hat die Zeit die Stadt letztens genannt: Hunderte Flüchtlinge stranden dort täglich, viele werden einfach auf Autobahnen ausgesetzt. Bund und Länder streiten derweil seit Monaten darüber, wer die Kosten trägt – man rechnet mit acht Milliarden für heuer.

Dennoch bleibt Deutschland Sehnsuchtsort für viele – weil die Politik eine positive Haltung zeigt, weil die Wirtschaft prosperiert, weil man gut behandelt wird. Und weil dort jene sind, die einen erwarten: "Die Menschen fliehen dorthin, wo sie Angehörige haben", sagt Günter Burkhardt. Geschäftsführer des größten NGO-Netzwerks Pro Asyl zum KURIER. "150.000 Syrer, 100.000 Iraker, 85.000 Menschen aus Afghanistan leben hier."

Wer nachkommt, hat gute Aussichten, bleiben zu können. 85 Prozent der Kriegsflüchtlinge erhalten Bleibe-recht, zurückgeschickt werden meist nur Menschen vom Balkan. Deutschland hat zudem die Dublin-III-Verordnung für Syrer ausgesetzt – sie werden nicht mehr in das EU-Land abgeschoben, in dem sie zuerst ankamen.
Zuwanderung ist nötig

Nicht erkannt habe die Politik, dass "Deutschland die Zuwanderer auf Dauer braucht", sagt Burkhardt. Aus der Wirtschaft kommt bereits die Forderung, jene mit noch nicht gerantiertem Asylstatus in den Arbeitsmarkt zu integrieren – denn Deutschland wird in den nächsten zehn Jahren 6,5 Mio. Arbeitskräfte wegen Überalterung verlieren. Insofern wäre es seitens der Politik doppelt wichtig, gegen die grassierende rechte Hetze aufzutreten.

Schweden ist bekannt für seine liberale Einwanderungspolitik, doch die Stimmung kippt: Die rechtspopulistische Oppositionspartei Schwedendemokraten ist laut jüngster Umfrage mit 25,4 Prozent vor den regierenden Sozialdemokraten (S) mit 23,4 populärste Partei.

"Wir werden Klarheit und Ordnung in die Aufnahme von Flüchtlingen bringen." reagierte der schwedische Premier Stefan Löfven diese Woche auf Umfrage und Vorwürfe, die Behörden seien überfordert. Es sollen mehr Unterkunftsmöglichkeiten gebaut werden, damit die Flüchtlinge bald einen Job finden und auf "Schweden bauen können", so Löfven.

Das Land (9,5 Millionen Einwohner) nahm vergangenes Jahr 110.000 Migranten auf, dazu gehörten 78.000 Asylsuchende und Familienzuführungen. Pro Kopf werden EU-weit am meisten Hilfesuchende aufgenommen. Die Prognose für 2015 lautete Ende Juli noch bis zu 80.000 Asylsuchende, doch der Andrang steigt – allein vergangene Woche suchten 2762 Menschen Asyl in Schweden.

Ankommende werden registriert und bekommen Taschengeld. Wer Bekannte in Schweden hat, kann sich seine Wohnung selbst suchen – dies führt dazu, dass in manchen Kommunen Migrantengruppen dominieren.

Nach dem Erhalt einer Aufnahmegenehmigung erhält der Asylsuchende kostenlosen ganztägigen Sprachunterricht, nach einem Abschluss kann er sich eine Arbeit suchen. Alle syrischen Migranten bekommen diesen Status aufgrund des Bürgerkriegs zugesprochen.

Werbung um VerfolgteSchweden war nicht immer so offen. Tage Erlander, der damalige sozialdemokratische Ministerpräsident, meinte noch 1965: "Die Bevölkerung unseres Landes ist homogen, nicht nur vom Aspekt der Rasse her gesehen, sondern auch in vielen anderen Bereichen." Sein Parteifreund und Nachfolger Olof Palme änderte dies radikal, er warb dafür, dass im Ausland Verfolgte am schwedischen Modell des Wohlfahrtsstaates teilhaben dürfen. Zeitgleich in den 70er-Jahren entstanden die Schwedendemokraten (SD) als nationalistische Bürgerinitiative. Heute präsentieren sie sich als die "wahren Sozialdemokraten", die das schwedische Sozialmodell vornehmlich Inländern zukommen lassen wollen.

Löfvens Beschwichtigung galt auch den Protesten der Kommunen, die derzeit mit der Unterbringung überlastet sind.

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