"Sind wir denn keine Menschen?"

Auch Freiwilligen-Bataillons sichern Slowjansk. Die Polizei, die zuvor teils zu den Rebellen überlief, ist ihnen suspekt.
KURIER vor Ort: Nach der Rückeroberung der Ex-Rebellen-Stadt regt sich vielfach Unmut.

Die Stadteinfahrt nach Slowjansk: Werbung für Laminatböden, eine private Sicherheitsfirma, ein neuer Blockbuster und: "Haben Sie die Probleme satt – wir können sie einige Wochen verstecken." Die Werbung einer Reiseagentur, die ein neues Geschäftsfeld entdeckt zu haben scheint: Menschen, die sich nicht so wohlfühlen unter den alten, neuen Herren in der ukrainischen Stadt, sich lieber verstecken und die daran denken, sich abzusetzen.

Slowjansk, das war die Hochburg der schwer bewaffneten Separatisten im Donbass, ehe sie vergangenen Juli nach knapp vier Monaten von der Armee Kiews zurückerobert wurde. Heute weht über dem einstigen Hauptquartier der Separatisten unter dem Feldkommandanten Strelkow die ukrainische Fahne. Auf dem Platz davor wurde eine Bühne aufgebaut, eine Art Speakers Corner, wo Bürger das Wort ergreifen können – nur ukrainische Fahnen sind zu sehen. Der Lenin auf dem Platz steht noch.

Ausgebrannte Ruinen

"Sind wir denn keine Menschen?"
Ukraine
Aber ganz so eitel Wonne ist es hier nicht. Nicht alle in der Region freuen sich so über die Rückkehr der ukrainischen Armee, wie etwa die Teilnehmer des patriotischen Autokorsos durch die Stadt, begleitet von ukrainischer Musik. Viele sind noch hier, die die Separatisten aktiv unterstützt haben, sagt ein Eingeweihter. Die Aktivsten unter ihnen werden gejagt, die anderen in Ruhe gelassen. Aber es gibt vor allem auch ein Problem: Fast jeder hat eine Waffe daheim. Der Krieg ist in weite Ferne gerückt in dieser Stadt – aber er hat seine tiefen Spuren hinterlassen. Nicht nur in Form ausgebrannter Ruinen an den Stadträndern.

Im Dorf Nikolaiwka, nahe Slowjansk, hat am 3. Juli eine Bombe in einen Wohnblock eingeschlagen. Oder eine Granate. Vielleicht auch mehrere. So genau weiß das keiner. Genauso wenig, woher sie kam. 16 Menschen sind gestorben. Eine ältere Dame hat sich chic gemacht in Pelz für ihren Sonntagsspaziergang in der Siedlung. Und angesprochen auf die Ruine mit dem verschneiten Trauerkranz davor, neben der sie lebt, gerät sie in Rage: "Sind wir denn keine Menschen?", schreit sie. Es folgt eine lange Ausführung über die Regierung in Kiew, die sie Junta nennt, Barack Obama, den sie töten möchte – was sie durch Handbewegungen einigermaßen bedrohlich verdeutlicht – und ihre Hassliebe zum ukrainischen Staat. Es ist eher Hass als Liebe.

KURIER-Reportage-Reise

"Sind wir denn keine Menschen?"

"Die Separatisten sind die Feinde"

"Sind wir denn keine Menschen?"
Ukraine
Es ist früh am Morgen, und langsam erwacht das Örtchen. Ein Mann kommt, geht in ein Geschäft direkt neben dem Loch in der Häuserreihe: "Die Separatisten sind die Feinde", sagt er. Er hat augenscheinlich eine schwere Nacht hinter sich. "Wenn man die Armee schickt, dann muss man auch sicher gehen, dass die Zivilbevölkerung nicht leidet", sagt er. Zwei Jahre habe er ohne Schnaps gelebt – im Juli habe er wieder angefangen. Und überhaupt: Dass man Polizisten und Soldaten aus dem Westen der Ukraine hierher geschafft habe, sei nicht akzeptabel. Die Region könne ihre Probleme nur selber lösen. Dann zieht er weiter.

Die lokale Polizei hat kaum mehr etwas zu sagen. Auf die Straße dürfen die Beamten nur unbewaffnet. Und zur Seite stehen ihnen schwer bewaffnete Kollegen – aus vertrauenswürdigeren Regionen, die Kiew definiert, vor allem aus der Westukraine. Bei der zwischenzeitlichen faktischen Machtübernahme in der Region durch pro-russische Separatisten hatten die lokalen Polizeieinheiten beachtlich schnell die Seiten gewechselt und – je nachdem, mit wem man spricht – die Separatisten mehr oder weniger aktiv unterstützt.

"Sind wir denn keine Menschen?"
Ukraine
Vertrauen haben wir keines in diese Leute, sagt ein junger Kämpfer des Bataillons "Sich", eines der vielen Freiwilligen-Bataillone, die unter dem Kommando des Innenministeriums kämpfen. Er sitzt im Empfangsraum der Basis der Einheit – die aeronautische Universität der Stadt (Wissenschaft vom Fliegen). An der Wand hängen patriotische Kinderzeichnungen. Am linken Arm trägt er ein Runenabzeichen. Er kommt aus Donezk und bezeichnet sich als ukrainischer Nationalist. Und wenn er das präzisiert, sagt er: "Ein Nationalist ist einer, der sein Land liebt und aktiv wird." Es sei ganz egal, ob das ein Russe, ein Armenier, ein Jude, ein Österreicher oder ein was auch immer sei. Er hat Jus studiert, will gegen Korruption kämpfen, wenn der Krieg vorbei ist – für ein Land, das der EU beitreten wird, wie er sagt. Er kämpft für die Ukraine, sagt er, nicht für die ukrainische Regierung – auch wenn er unter dem Kommando des Innenministeriums stehe.

Wenig Vertrauen

Ob Patrioten, Unbeteiligte oder ausgesprochene Kiew-Hasser: So tatsächlich viel Vertrauen in die Regierung in Kiew besteht nicht in der Stadt. Die Armee werde im Stich gelassen, sagen Patrioten. Dass man die Armee geschickt habe, sei ein Verbrechen, sagen andere. Zu wenig werde getan, hört man an allen Ecken von beiden Lagern, die Wirtschaft liege am Boden, es gebe keine Jobs. Waleri Garmash, Journalist bei einer regionalen Nachrichtenseite, sieht das anders. "Es gibt haufenweise Arbeit", sagt er. Viele Firmen aus Donezk würden nach Slowjansk umsiedeln, es werde renoviert, gebaut, und wer wolle, könne Arbeit finden – nur dass das oft nicht der Fall sei und es an Qualifikation mangle.

Im Hinterhof der technischen Schule von Slowjansk stehen Panzer. Studenten kommen, bringen selbst gemalte Bilder vorbei, um die Soldaten zu unterstützen. Eine kleine Zeremonie. Die Nationalhymne wird gesungen, patriotische Sprechchöre werden angestimmt. Ein Panzerfahrer mit zerschundenen, ölverschmierten Händen sagt: "Wir werden gewinnen, es ist unser Land." Er lacht, freut sich über den Besuch. Polizist war er. Jetzt ist er Freiwilliger bei der Armee. Die gepanzerten Truppentransporter im Innenhof haben alle platte Reifen. Sie sind zerbeult. Jetzt werden sie repariert. Bald werden sie wieder an die Front rollen. In der vergangenen Nacht gab es an ihrem Posten an der Front schweres Artilleriefeuer – wie jede Nacht.

"Sind wir denn keine Menschen?"

Russland lässt als Reaktion auf die Ukraine-Krise weiter mit Manövern seiner Luftwaffe und Marine die Muskeln spielen: Die baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen meldeten außergewöhnlich umfangreiche Übungen Russlands. Die NATO bestätigte am Dienstag, dass über der Ostsee 13 russische Militärflugzeuge identifiziert worden seien – sechs Langstreckenbomber und sieben Transportmaschinen. Zudem beobachtete Litauen in internationalen Gewässern 22 russische Kriegsschiffe. Das sei alles andere als Routine, hieß es in der NATO-Zentrale in Brüssel.

Die Europäische Agentur für Flugsicherheit (EASA) ist ebenfalls besorgt. Die Funkanlagen der russischen Militärjets seien ausgeschaltet und daher ein Kontakt nicht möglich gewesen, teilte die EASA mit. Sie prüfe bereits eine Reihe von "Beinahe-Zusammenstößen" zwischen zivilen Flugzeugen und russischen Militärjets in den vergangenen Monaten.

In der Ostukraine hielt am Dienstag vorerst eine Feuerpause. Ein Termin für geplante Friedensgespräche in Minsk stand aber noch aus.

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