Lugansk und Donezk auf Russland-Kurs

Die Wahlkommission in Donezk hat ihr Ziel erreicht: Wer angestürmt kam, auch ohne gültigen Eintrag in der Wählerliste, durfte abstimmen.
Die Separatisten in den ostukrainischen Regionen Lugansk und Donezk setzen den nächsten logischen Schritt: Sie riefen ihre Unabhängigkeit aus und peilen den Anschluss an Russland an.

Ein Mann um die 40 steht an einer Busstation in Donezk im morgendlichen Berufsverkehr. Er hat eine Ledertasche unter den Arm geklemmt. Auf die Frage, ob er denn am Referendum teilgenommen hat, schweigt er mit eiserner Miene ohne einen Blick auszutauschen. Der Bus bleibt stehen. Die Wartenden steigen ein. Der Bus fährt ab. Der Mann bleibt alleine zurück und sagt: "Nein". Nicht mehr und nicht weniger. Er verzieht keine Miene dabei. Dann dreht er sich um.

"Bärte und Schwänze"

Weitaus wortgewaltiger in ihren Ausführungen sind dagegen solche, die an der Abstimmung teilgenommen haben. Sie feiern "unseren Triumph", wie es einer nennt. Sei es über die "Faschisten in Kiew", wie es viele ausdrücken, über Europa, die USA. Auf die Toilettencontainer neben dem besetzten Regierungsgebäude in Donezk hat einer in fetten Lettern "Europa" geschrieben. Darunter hat einer "... geh in den Arsch" gekritzelt. Und ein Mann in einem ausgebeulten Trainingsanzug sagt mit Häme: "Bei euch im Westen Europas haben die Frauen ja Bärte und Schwänze."

Laut den Separatisten haben in Donezk 89 Prozent für eine Loslösung von der Ukraine votiert. In Lugansk waren es angeblich sogar 96 Prozent. Es war ein Votum ohne Wählerlisten, ohne jegliche Kontrolle der Auszählung, die Initiatoren stellten die Wahlkommission und jeder konnte so oft abstimmen wie er wollte. Wladimir Putin, Russlands Präsident, erkannte das Referendum am Montag wenn auch nicht ausdrücklich, so doch prinzipiell an. Er nannte das Votum laut einem Sprecher einen Ausdruck des Volkswillens, der respektiert werden müsse. Es gehe darum, das Ergebnis in "zivilisierter Art und Weise ohne Gewalt und durch einen Dialog" umzusetzen.

In Kiew schäumt man derweil. Übergangspräsident Alexander Turtschinow sprach von einer Farce. Das Referendum sei in keiner Weise rechtlich bindend. Morgen, Mittwoch, soll jedenfalls ein Treffen zwischen Vertretern der Ostukraine und der ukrainischen Regierung in Kiew stattfinden, wo über eine friedliche Beilegung der Krise beraten werden soll.

Loslösung von Ukraine

Unklar ist jedoch, wie ein Kompromiss aussehen könnte. Aus der Sicht der Separatisten ist die Loslösung von der Ukraine besiegelt. Die Region Lugansk sagte sich am Montag von der Ukraine los – und hat bereits die Vereinten Nationen gebeten, ihre Unabhängigkeit anzuerkennen. Zudem wird die Region an der am 25. Mai angesetzten Präsidentschaftswahl nicht teilnehmen, meldete die russische Nachrichtenagentur RIA Nowosti. Ein Referendum über den Anschluss an Russland werde erwogen.

In der Region Donezk wurde bereits die Bildung einer Regierung und einer Armee bekannt gegeben. Auch diese Region wird nicht an den Präsidentschaftswahlen teilnehmen. Stattdessen sei die Aufnahme der Region Donezk in die Russische Föderation, "wahrscheinlich ein angemessener Schritt", sagte der führende Separatist Roman Liagin am Montag.

Um die Stadt Donezk bauten die Separatisten am Montag ihre Stellungen aus, errichteten zusätzliche Straßenblockaden. Mindestens ein Panzerfahrzeug war an einem Checkpoint zu sehen. Und in der Stadt selbst ist von den ukrainischen Behörden so gut wie nichts mehr sichtbar. Auf dem Lenin-Platz wehen sowjetische und russische Fahnen. Die wichtigsten lokalen TV-Stationen der Region sind in der Hand der Separatisten. Und die machen kräftig Werbung für ihre Sache und gegen alle möglichen Feinde.

Ein Mann, der sich als "absoluter Pazifist" bezeichnet und beim Referendum nicht abgestimmt hat, sagt: "Sie haben den Menschen hier so lange erzählt, dass schwarz eigentlich weiß ist, dass sie begonnen haben, zu glauben, dass weiß eigentlich schwarz ist." Das Drama an der Sache, wie er es nennt: "Alle beteiligten Parteien machen das."

"Ein Albtraum"

"Wo sind denn die 70 Prozent Gegner einer Loslösung? Wo?", sagt Tanya, eine junge Frau an einer Kreuzung. Sie spielt auf Umfragen aus Kiew an, laut denen 70 Prozent der Bewohner des Donbass gegen die Unabhängigkeit und gegen einen Anschluss an Russland sind. Einen "Albtraum nennt sie das, was sich in ihrer Stadt dieser Tage abspielt". Sie blickt zu Boden und sagt: "Das ist nicht die Stadt, in der ich geboren wurde, in der ich aufgewachsen bin." Da biegt ein schwarzer Van mit getönten Scheiben um die Ecke. Ein Fenster ist offen. Am Steuer sitzt ein riesiger Mann mit schwarzer Sturmhaube und schwarzer Schutzweste. Am Beifahrersitz sitzt ein schwarz gekleideter Kämpfer mit einer AK-47 samt Granatwerfer zwischen den Knien. Tanya blickt dem Auto nach und sagt: "Meine Koffer habe ich schon gepackt, losgehen kann es jederzeit."

Vor einer Kirche im Zentrum steht eine hagere alte Frau. Sie habe gehört, dass um Donezk Panzer postiert worden seien – ohne zu wissen von wem. Sie habe auch gehört, dass es Kämpfe geben würde in Donezk, dass die Armee versuchen werde, in die Stadt zu kommen.

Militäraktionen

In der gesamten Ostukraine finden derzeit Militäraktionen von Armee, Truppen des Innenministeriums und der Nationalgarde statt. Ob sie auf verlorenem Posten kämpfen, ist schwer zu sagen. Machen sie Gefangene, übergeben sie sie jedenfalls nicht der lokalen Polizei – denn die ist praktisch geschlossen aufseiten der Separatisten. Zum Teil sollen Gefangene bei pro-ukrainischen Paramilitärs gelandet sein. Das treibt die Armee wiederum in eine legale Grauzone und macht ihre Antiterror-Operation, wie es die Regierung in Kiew nennt, zunehmend unbeliebt. Zugleich werden die Separatisten anscheinend mit jedem Tag stärker und schaffen durch Straßenblockaden Tatsachen – was die Armee in Zugzwang bringt.

Ob sich auch die Deutschen am Krieg beteiligen würden, will die alte Dame wissen. Sie habe gehört, die Faschisten kämen wieder hierher. Sie bekreuzigt sich und geht.

Das Katz-und-Maus-Spiel zwischen Brüssel und Moskau wurde gestern fortgesetzt: Die Außenminister der 28 EU-Staaten belegten 13 weitere Personen (sechs aus der Ukraine, drei aus Russland, vier von der Krim) mit Einreise- und Kontensperren belegt; die Sanktionen der "Phase 2" gelten nun für 61 Personen. An der Spitze: Wjatscheslaw Wolodin, erster Vize-Stabschef der Präsidialverwaltung Russlands, verantwortlich für die politische Integration der Krim in die Russische Föderation. Erstmals sind auch zwei Unternehmen, die auf der Krim von Russland verstaatlicht wurden, auf einer "schwarzen Liste" der EU.

"Sonst hätten wir Krieg"

Zu Wirtschaftssanktionen ("Phase 3") ist die Union nach wie vor nicht bereit. "Wir sollten Wirtschaftssanktionen nicht herbeisehnen, denn sie würden neben Russland auch uns treffen", sagte Außenminister Kurz. "Wir können und dürfen auch nicht auf jede Provokation mit einer neuen Sanktionsstufe reagieren – wenn wir das gemacht hätten, gäbe es heute schon Krieg." Zudem obliege die Entscheidung über "Phase 3" den Staats- und Regierungschefs, die am 27. Mai zusammen kommen. Angesetzt wurde das Treffen zwar, um zwei Tage nach der EU-Wahl über die Kür des nächsten Kommissionspräsidenten zu beraten. Da die Ukraine ebenfalls am 25. Mai wählen soll, drängt sich das Thema auf. Noch mehr, als die Durchführung von freien Wahlen die neue "rote Linie" gegenüber Russland ist. Deutschlands Kanzlerin Merkel und Frankreichs Präsident Hollande hatten Russland gemeinsam mit Wirtschaftssanktionen gedroht, sollten die Präsidentschaftswahlen scheitern."Die Durchführung von freien und ordentlichen Wahlen in der Ukraine muss das oberste Zielt der EU sein", sagte Kurz. "Sie wären ein wichtiger Beitrag zur Stabilisierung." Anhand welcher Kriterien die EU bewerten will, ob die Wahlen "frei und ordentlich" waren, ließe sich jedoch vorab nicht sagen.Das Referendum, das in der Ostukraine stattfand, wird von der EU und den USA nicht anerkannt: "Es steht völlig quer zu den verfassungsrechtlichen Vorgaben in der Ukraine", so der deutsche Außenminister Steinmeier. Sein britischer Kollege Hague meinte, "die Abstimmung beim Eurovision Song Contest war glaubwürdiger und hatte mehr Gewicht". Moskau forderte gestern aber die Anerkennung der Referenden und ließ wissen: Sanktionen gegen Russland untergrüben das Vertrauen in die EU und nährten Zweifel an ihrer Objektivität in der Ukraine-Krise.

Die EU und Russland tauschen jährlich Waren im Wert von 350 Milliarden Euro aus, die EU hat 200 Milliarden Euro in Russland investiert, rechnet Dietmar Fellner, Österreichs Wirtschaftsdelegierter in Moskau, vor. „Wer Sanktionen fordert, hat den Sinn für die Realität verloren“, sagt er. „Das Außenhandelsvolumen der USA mit Russland beläuft sich dagegen nur auf 30 Milliarden Euro. Deswegen können die USA leichter nach Sanktionen schreien.“
Österreich hat 2013 Waren im Wert von 3,5 Milliarden Euro nach Russland exportiert. Das entspricht einem Plus von neun Prozent und damit einem Rekordwert. Dieser kann heuer bestenfalls gehalten werden, sagt Fellner. Seit Mitte 2013 schwächelt Russland. Heuer wird die Wirtschaft des Landes bestenfalls stagnieren. Fellner: „Die Menschen sparen oder bringen ihr Geld ins Ausland.“ Normal liegt der jährliche Kapitalabfluss bei 60 bis 80 Milliarden Euro, heuer waren es schon im ersten Quartal 60 Milliarden Euro.“ Diese Summe enthält allerdings Gewinnabflüsse ins Ausland oder Überweisungen an ausländische Banken.

"Business as usual"

Dass der Importstopp Russlands für österreichische Molkerei- und Fleischwarenbetriebe politisch motiviert ist, glaubt Fellner nicht. „Solche Auditierungen gibt es alle drei Jahre. Dass sie ausgerechnet im Februar stattgefunden haben, war Zufall.“ Russland ist Österreichs zehntwichtigster Exportmarkt. 1200 Firmen sind dort tätig – aufgrund der Großbaustelle Sotschi waren es zuletzt besonders viele. 550 österreichische Firmen haben eine Niederlassung in Russland. Laut Fellner laufen die Geschäfte „wie immer“. Noch. Die Russen stehen auf der Investitionsbremse. Wegen der Verunsicherung und der Rubel-Abwertung.

Das politische Drehbuch ist seit der Krim-Krise bekannt. Erst stimmt die russophile Bevölkerung in einem Referendum über die Abspaltung von der Ukraine ab. Dann erklärt man sich unabhängig – und wird von Russland annektiert. Dieses Mal aber gibt es eine kleine Änderung der Handlung. Das lässt hoffen, dass die beiden ostukrainischen Regionen Lugansk und Donezk nicht auch schon nächste Woche ein Teil Russlands sein werden. Denn Moskau "respektiert" zwar das Ergebnis der skurrilen Volksabstimmung, hat es aber formal nicht anerkannt.

Damit hält sich Präsident Putin alle Optionen offen: Kiew soll unter Druck gesetzt werden, den Regionen mehr Autonomierechte zuzugestehen. So könnte sich der Ostteil des Landes Russland zuwenden, wenn der Westen sich hin zur EU orientiert. Aber der Epilog dieses Dramas ist noch nicht geschrieben. Angesichts des Blutzolls, der Menge an Waffen und der unübersichtlichen politischen Spiele steht zu befürchten, dass sich die Ostukraine in eine Gewalt- und Chaoszone verwandelt, die sich nicht einmal die rabiatesten Separatisten gewünscht haben können.

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