Mehr als eine Million Ukrainer auf der Flucht

Viele Ukrainer leben derzeit in Flüchtlingscamps
Mehr als 800.000 sind laut UN-Flüchtlingshilfswerk nach Russland geflohen, 260.000 im Land vertrieben

Mehr als eine Million Menschen sind nach UN-Angaben infolge des Ukraine-Konflikts aus ihren Heimatorten vertrieben worden. Rund 814.000 hätten Zuflucht im
benachbarten Russland gesucht, rund 260.000 Menschen seien im Land vor den Kämpfen zwischen Armee und prorussischen Separatistenauf der Flucht, teilte das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) am Dienstag in Genf mit.

Die Organisation sei zudem besorgt, dass es wegen der anhaltenden Kämpfe um die Rebellenhochburgen Donezk und Luhansk zu weiteren Fluchtbewegungen in einem großen Ausmaß komme, sagte UNHCR-Europachef Vincent Cochetel.

Man könne sicher sagen, dass mittlerweile mehr als eine Million Menschen wegen des Konflikts ihre Heimatorte verlassen hätten, sagte Cochetel vor Journalisten: "260.000 in der Ukraine - das ist eine niedrige Schätzung - 814.000 sind nach Russland ausgewandert, und dann rechnen Sie dazu den Rest in Weißrussland, Moldau und der Europäischen Union."

Betroffen von den Kämpfen sind vor allem die Bewohner im Osten des Landes, wo viele russischstämmige Ukrainer leben. Dort kämpfen prorussische Separatisten um Unabhängigkeit und eine engere Anbindung an das benachbarte Russland. Sie werden von der Regierung in Moskau unterstützt. Die ukrainische Regierung hat die Separatisten zu Terroristen erklärt und die Armee gegen sie in Marsch gesetzt.

Moskau: Kiew behindert Friedensprozess

Nach russischer Darstellung behindert die Ukraine eine Friedenslösung für den Osten des Landes. Warum? Das Bemühen der Regierung in Kiew um eine Mitgliedschaft in der NATO sei nicht vorteilhaft für einen Dialog, sagte Russlands Außenminister Sergej Lawrow. Während es Versuche gebe, eine politische Lösung der Grundsatzfragen zu finden, "unternimmt in Kiew die Partei des Krieges Schritte, die eindeutig diese Bemühungen untergraben sollen".

Am wichtigsten sei nun, die Regierung in Kiew zur Vernunft zu bringen. "Das können im wesentlichen nur die USA", erklärte Lawrow weiter. Der ukrainische Ministerpräsident Arseni Jazenjuk hatte am Freitag angekündigt, sein Land werde die Mitgliedschaft in der NATO anstreben.

Ban: "Keine militärische Lösung"

UNO-Generalsekretär Ban Ki-moon warnte indes die NATO, dass es im Konflikt "keine militärische Lösung" geben darf. Das westliche Verteidigungsbündnis - unter der Riege von NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen - will angesichts der "russischen Aggressionen" ihre Präsenz in Osteuropa erheblich verstärken (siehe unten).

Als Reaktion auf die Pläne der NATO hat Russland eine Anpassung seiner Verteidigungspolitik angekündigt. "Alle Fakten" wiesen darauf hin, dass die USA und die NATO "ihre Politik der Verschlechterung der Beziehungen zu Russland fortsetzen" wollten, sagte der Vizechef des russischen Sicherheitsrats, Michail Popow. Die russische Militärdoktrin solle bis zum Jahresende aktualisiert werden. Er habe "keinen Zweifel" daran, dass eine Ausweitung der NATO-Aktivitäten "ihren Platz unter den äußeren militärischen Bedrohungen" finden werde, sagte Popow.

Moskau nimmt Stellung

Unterdessen schlägt die von Präsident Wladimir Putin kolportierten Äußerung, Russland könne die ukrainische Hauptstadt Kiew "binnen zwei Wochen einnehmen", weiterhin hohe Wellen. Die Aussage sei missverständlich wiedergegeben worden, erklärte ein Berater Putins am Dienstag der Nachrichtenagentur Itar-Tass.

"Wenn ich will, kann ich Kiew binnen zwei Wochen einnehmen."

"Ob diese Worte gefallen sind oder nicht, ich glaube, dass die Zitate aus dem Zusammenhang gerissen wurden und eine vollständig andere Bedeutung hatten", so Juri Uschakow, ein außenpolitischer Berater des Präsidenten. Die Veröffentlichung der angeblich in einem Telefonat mit EU-Kommissionspräsident Jose Manuel Barroso gefallenen Äußerung sei in jedem Fall "nicht angemessen".

Die italienische Zeitung La Repubblica hatte am Montag berichtet, dass Barroso auf dem EU-Gipfel am Samstag den Staats- und Regierungschefs von seinem Telefongespräch mit Putin unterrichtet hatte. Demnach habe Putin auf Fragen zum Einsatz russischer Soldaten in der Ukraine geantwortet: "Wenn ich will, kann ich Kiew binnen zwei Wochen einnehmen."

Australien für G-20-Ausschluss

Auch international droht Russland eine immer stärkere internationale Isolation. Australien will der Gruppe der 20 führenden Wirtschaftsnationen (G-20) vorschlagen, Putin vom Gipfeltreffen im November in Brisbane auszuschließen, sagte Handelsminister Andrew Robb am Dienstag. Russlands Außenminister Lawrow kritisierte dies scharf: "Alle Versuche, die Wirtschaftsthemen des Gipfels durch einen politischen Skandal zu ersetzen, sind völlig unseriös", sagte er in Moskau.

Lawrow hielt in Moskau dagegen, Australien als Gastgeber des Gipfels fürchte vermutlich einen Misserfolg. "Sie gehen offenbar davon aus, dass es ein Gipfel ohne Resultate wird", sagte Lawrow. Die Lage der Weltwirtschaft sei alles andere als rosig. "Da sollte die internationale Gemeinschaft alle Möglichkeiten - und das schließt die G20 ein - dazu nutzen, die Situation zu verbessern", sagte Lawrow.

Sebastian Kurz steht im grellen Scheinwerferlicht auf der Bühne des Konzertsaals der Wiener Sängerknaben. Es ist kein Showauftritt, der Außenminister wirkt angespannt. Er erzählt, dass ihm sein Vorgänger Michael Spindelegger vor neun Monaten gesagt habe, es gebe genug Zeit, sich einzuarbeiten, denn große Krisen wären selten. "In diesem Punkt hat Spindelegger nicht recht behalten", sagt Kurz am Dienstag Österreichs Botschaftern, Managern und Kulturschaffenden, die vor ihm sitzen.

Zeit zum Einarbeiten hatte er nicht, eine Krise jagt die andere: Naher Osten, Irak, Syrien, Dschihadisten und die Ukraine. Er spricht von nötigen harten Sanktionen der EU gegen Russland. "Wir müssen uns auf weitere Gegensanktionen vorbereiten." Es wird schlimmer, aber es geht "um Freiheit und europäische Werte", die in der Ukraine verteidigt werden müssen.

Die alljährliche Botschafterkonferenz ist überschattet von der Frage, welche Drohungen und Provokationen als nächstes von Präsident Putin kommen? Und wie die EU darauf reagiert? "Der Ton wird noch aggressiver", glauben viele Botschafter.

Zum ersten Mal findet das Treffen mit den weltweit tätigen österreichischen Botschaftern nicht hinter verschlossenen Konferenztüren statt, sondern öffentlich. Die Eingeladenen haben die Möglichkeit, auf Tuchfühlung mit den Spitzendiplomaten zu gehen.

Der Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde, Oskar Deutsch, kam ebenso wie Oscar-Preisträger Stefan Ruzowitzky, Schauspielerin Mercedes Echerer, Sacher-Chefin Elisabeth Gürtler sowie der Generaldirektor der Raiffeisen-Zentralbank, Walter Rothensteiner.

Beklemmend waren die Schilderungen von Dominik N., der ehemaligen österreichische Geisel im Jemen, über sein mehrmonatiges Martyrium in der Wüste. Dass er befreit wurde, ist der österreichischen Diplomatie zu verdanken. Vielleicht will er jetzt wegen dieser positiven Erfahrung EU-Diplomat werden.

"Eiskalter Putin"

Wenige Stunden vor der Botschafterkonferenz diskutierte Außenminister Kurz mit dem ehemaligen tschechischen Amtskollegen Karel Schwarzenberg im TV-Sender Puls 4 über den Ukraine-Konflikt. Dabei zog Schwarzenberg einen historischen Vergleich: Das Verhalten des Westens in der Ukraine-Krise erinnere an das Schweigen beim Anschluss Österreichs durch Nazi-Deutschland. "Ich fühle mich an die Jahre 38/39 erinnert. Auch damals hatte der Westen den Anschluss Österreichs schweigend hingenommen", sagte Schwarzenberg. "Das heutige Verhalten im Vergleich zur damaligen Zeit ist ähnlich, es unterscheiden sich nur die handelnden Politiker. Während Hitler ein halbgebildeter Hysteriker war, ist Putin einfach nur eiskalt."

Die EU will bis Freitag über neue Wirtschaftssanktionen gegen Russland entscheiden. Das Maßnahmenpaket werde bis Mittwoch von der EU-Kommission geschnürt, bestätigte die designierte EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini am Dienstag im EU-Parlament entsprechende Medienberichte.

Entscheiden müssen über die neuen Sanktionen die Botschafter der 28 EU-Staaten, die bereits am Montag über die neue Entwicklung in der Ukraine-Krise beraten hatten. Die Kommission arbeite an einem verstärkten Paket von Wirtschaftssanktionen gegen Russland, fügte Mogherini hinzu, die derzeit noch Außenministerin Italiens ist.

Sanktionen am Finanzmarkt

Die EU will ihren Wirtschaftssanktionen gegen Russland vor allem am Finanzmarkt ausweiten. Die EU-Kommission habe den Vertretern der EU-Staaten unter anderem ein Handelsverbot für syndizierte Kredite vorgeschlagen, die für russische Banken und andere Institutionen bestimmt seien, sagten Diplomaten am Dienstag.

Zudem könnte der Handel zwischen Russland und der EU von Finanzprodukten mit einer Laufzeit von 30 und nicht wie bisher 90 Tagen untersagt werden. Darüber hinaus könnte auch der Derivatemarkt von Auflagen betroffen sein. Über das Maßnahmenpaket will die EU-Kommission am Mittwoch befinden, eine Entscheidung folgt am Freitag.

Zugang zu Beihilfen untersagen

Ins Visier könnte die EU demnach auch russische Firmen in Staatsbesitz nehmen. Diesen könnte künftig der Zugang zu Beihilfen in der EU untersagt werden. Auch das bereits bestehende Verbot von Produkten zur militärischen wie zivilen Nutzung (Dual-use) könnte ausgeweitet werden und nicht nur für das russische Militär, sondern alle Endnutzer in Russland gelten.

In einem nächsten Schritt, der den Diplomaten zufolge in der aktuellen Sanktionsrunde aber nicht auf der Beschlussagenda steht, könnte die EU ihre Maßnahmen auf den Stahl- und Telekomsektor ausweiten. Dann sei auch der Ausschluss Russlands von wichtigen Veranstaltungen, etwa im Sportbereich, möglich. Russland richtet 2018 die Fußball-Weltmeisterschaft aus.

Als Antwort auf die anhaltende Krise in der Ukraine will die NATO einen Stützpunkt im Osten Europas platzieren. Das berichtet zumindest die britische Tageszeitung The Guardian am Dienstag. Die zusätzliche Präsenz im Osten soll vor allem die baltischen Staaten vor russischen Aggressionen schützen, heißt es weiter. Auf Konflikte in den ehemaligen sowjetischen Staaten könne man verzichten, erklärt der scheidende Generalsekretär des Militärbündnisses, Anders Fogh Rasmussen. Er kündigte nun konkrete Schritte für das Vorhaben.

"Unsere Absicht ist die Entwicklung einer Sperrspitze, um schnellstmöglich für Gegenreaktionen bereit zu sein."

Beim NATO-Gipfeltreffen kommende Woche in Wales will das Militärbündnis einen "Readiness Action Plan" beschließen. Nach Rasmussen habe dieses Übereinkommen eine schnellere Einsatzbereitschaft in einem völlig veränderten Sicherheitsumfeld in Europa zum Ziel. Zudem bekräftigt der NATO-Generalsekretär, die Sicherheit der Ukraine zu stärken, die Armee zu "modernisieren" und das Land gegen die Aggression Russlands zu unterstützen. Aber dafür müsse man Einrichtungen in den "Gastgeberländern" aufbauen.

Baltische Staaten alarmieren

Polen und die drei baltischen Staaten Lettland, Litauen und Estland forderten bereits vor Wochen eine stärkere NATO-Präsenz in dieser Region. Die Länder sind besorgt, dass Moskau sich das Recht vorbehalte, in anderen Ländern zu intervenieren, wie auf der ukrainischen Halbinsel Krim. In Estland, Lettland und Litauen leben viele Russen, allein in Estland machen sie knapp 30 Prozent der Bevölkerung aus.

Aber das Vorhaben, einen Stützpunkt im Osten aufzustellen, spaltet Europa. Frankreich, Italien und Spanien sind dagegen, die Briten hingegen unterstützen die baltische Forderung. Nach Angaben des Nachrichtenportals Spiegel Online würde Deutschland eine permanente Militärbasis in Osteuropa ablehnen.

Rasmussen: Keine permanenten Basen

Damit rechnet auch Rasmussen und erwähnt, dass der Bergriff "permanent" beim NATO-Gipfel gar völlig vermieden werden soll. Es wird sich um eine "rotierende" Militärstationierung mit "hoher Frequenz" handeln. Er bestätigt jedoch, dass die Basen ständig bemannt sein müssen.

"Wenn ein potenzieller Aggressor einen Verbündeten angreift, dann soll er wissen, dass er nicht nur auf Soldaten des Landes, sondern auch auf die NATO treffen werde."

Auf die Frage, ob der dauerhafte Einsatz in Osteuropa unter der NATO-Flagge stattfinden werde, antwortete Rasmussen eindeutig mit "Yes". Aber um Missverständnisse auszuräumen, würde er statt "dauerhaft" lieber "so lang wie nötig" benutzen. "Unser Ostpartner werden zufrieden sein, wenn sie den Readiness Action Plan lesen", so Rasmussen weiter. Immerhin würde mit einer stärken Präsenz im Osten die militärische Verstärkung innerhalb weniger Stunden im Krisengebiet sein.

Rasmussen: Niemand rechnete mit Annexion

Rasmussen, der noch zum 1. Oktober im Amt bleibt (sein Nachfolger ist der frühere norwegische Regierungschef Jens Stoltenberg), kritisiert, dass Russland mittels Militärgewalt ein Land annektiert hat. In einem Interview mit europäischen Medien erklärte der scheidende Generalsekretär, dass man sich eine Veränderung Russlands erwartet hätte, aber "niemand rechnete mit einer Annexion".

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