Erdogans Militäroffensive ins Ungewisse

US-Kampfjets beziehen Stellung auf der türkischen Luftwaffenbasis Incirlik.
Neue Luftangriffe gegen Kurden im Irak. Pläne für Sicherheitszone in Syrien bleiben vage.

Der Plan liegt seit mindestens zwei Jahren in den Schubladen in Washington und Ankara, seine strategischen Schwachpunkte hat er in dieser Zeit nicht eingebüßt. Jetzt wird er trotzdem wieder hervorgeholt. In Anbetracht der jüngsten Eskalation im syrischen Bürgerkrieg peilen die Militärs beider Länder erneut die Schaffung einer Sicherheitszone im Westen Syriens an der Grenze zur Türkei an. Bei dem für heute, Dienstag, kurzfristig einberufenen Treffen der NATO werden diese Pläne im Mittelpunkt stehen.

Erdogans Militäroffensive ins Ungewisse
Etwa 60 km tief soll der Korridor werden, aus dem zu allererst die Kämpfer der islamistischen Terrormiliz IS vertrieben werden sollen. Seit ein IS-Terroranschlag in der Vorwoche ein Blutbad mit 32 Toten in der Türkei angerichtet hat, fliegt die türkische Armee Luftangriffe gegen IS-Stellungen in Syrien. Sie verstärkt damit die US-Luftwaffe, die seit Monaten den IS bombardiert – und das jetzt auch von türkischen Luftwaffen-Stützpunkten aus tun darf.

Ankara kompromisslos

Zumindest politisch ein Schwenk der türkischen AKP-Regierung, die sich bisher im Krieg gegen den IS zurückgehalten, den Vormarsch der Terrormiliz – wie Kritiker Ankaras behaupten – stillschweigend sogar gefördert hat. Schließlich ist der IS für die Türken nicht nur eine Bedrohung, sondern auch ein Feind ihres eigenen Feindes, der radikalen Kurdenbewegung PKK. Die in den vergangenen Jahren vorsichtig eingeleitete Aussöhnung mit der PKK ist aber mit den jüngsten Entwicklungen vom Tisch. Denn die türkischen Angriffe der letzten Tage richten sich keineswegs nur gegen den IS, sondern vorrangig gegen die verfeindeten Kurden und deren Lager in den Bergen des Nordirak und in Syrien. Und Premier Davutoglu machte klar, dass die Angriffe so lange fortgesetzt würden, bis die PKK die Waffen niederlege. Eine Eskalation, die auch das heutige NATO-Treffen überschatten dürfte. NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg hat Ankara davor gewarnt, den Friedensprozess mit den Kurden zu gefährden.

Für die Türkei steigt die Gefahr von Terroranschlägen durch die PKK. Die Ermordung zweier Polizisten unweit der syrischen Grenze vor wenigen Tagen geht auf deren Konto, in Istanbul warnen die Behörden vor baldigen Anschlägen auf öffentliche Einrichtungen.

Auch in Syrien könnte die türkische Militäroffensive unabsehbare Folgen haben. Im Kampf gegen den IS sind gerade kurdische Milizen die einzigen, die auch auf dem Boden nachhaltige Erfolge erzielen konnten. So war die Befreiung der Grenzstadt Kobane nach monatelangen Kämpfen ein Erfolg, der nur durch die Zusammenarbeit verschiedener kurdischer Milizen möglich wurde.

Ankara aber will eine weitere Stärkung der Kurden in der Region mit allen Mitteln verhindern. Bei den nun bekannt gewordenen Plänen für die Sicherheitszone in Syrien setzt man daher wieder auf andere Partner, die diese auf dem Boden sichern sollen. Wie schon seit Jahren ist erneut von „gemäßigten Rebellen“ die Rede. Doch die sind im syrischen Bürgerkrieg eine militärische Randerscheinung – und das trotz massiver militärischer Unterstützung durch die USA. Von den von der US-Armee trainierten Rebelleneinheiten ist gerade einmal eine gegen den IS im Einsatz. Ihre Stärke: 60 Mann.

Mitglied bedroht Schon in den Gründungsverträgen der NATO von 1949 ist das Prinzip der kollektiven Selbstverteidigung festgehalten. Grundsätzlich betrachtet die NATO eine Aggression gegen ein Mitglied der Allianz – ob militärisch oder politisch – als Aggression gegen das gesamte Bündnis und handelt entsprechend.

Zwei Stufen Artikel 4 – auf ihn hat sich die Türkei jetzt berufen – sieht Beratungen aller Mitglieder vor, wenn die „Unversehrtheit des Gebietes“ eines Mitglieds bedroht ist. Artikel 5 dagegen tritt erst bei einem bewaffneten Angriff gegen ein Mitglied in Kraft und beinhaltet die Verpflichtung zum Beistand. Das war erstmals nach dem 11.9.2001 der Fall.

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