Erdogan will der neue Atatürk sein

Am 29. Oktober 1923 hob Mustafa Kemal Pascha, genannt Atatürk (hier auf einem Bildnis), die moderne Türkei aus der Taufe.
Nach „Gezi“-Protesten ist die Premierspartei zum 90. Geburtstag des Landes wieder obenauf.

Am kommenden Dienstag feiert die Türkei einen runden Geburtstag: 90 Jahre ist es nämlich her, dass Staatsgründer Atatürk am 29. Oktober 1923 die Republik aus der Taufe gehoben hat (siehe Chronologie unten). Und so wie damals ist mit Premier Recep Tayyip Erdogan auch jetzt ein politisches Alpha-Tier an den Schalthebeln der Macht, das diese sehr autoritär bedient. Dies bewies der Chef der konservativ-islamischen AK-Regierungspartei zuletzt im Sommer, als er die Proteste um den Istanbuler Gezi-Park brutal niederknüppeln ließ. Seiner Popularität hat das langfristig keineswegs geschadet, wie jüngste Umfragen belegen.

Erdogan will der neue Atatürk sein
Riot police use water cannon to disperse anti-government protesters at Taksim in central Istanbul July 20, 2013. Turkish police fired water cannon on Saturday to disperse hundreds of protesters who gathered to march to Gezi Park in central Istanbul, which has been at the heart of fierce demonstrations against Prime Minister Erdogan's rule. REUTERS/Osman Orsal (TURKEY - Tags: CIVIL UNREST POLITICS)

„Von seiner Warte aus gesehen ist die Niederschlagung ohne Wenn und Aber aufgegangen“, analysiert die türkische Politologin und Soziologin Demet Dinler im KURIER-Gespräch. Sie selbst hatte an den Demonstrationen teilgenommen und zieht eine zwiespältige Bilanz. „Es kamen ganz unterschiedliche Gruppen zusammen, wie Frauenverbände, Kurden, Nationalisten, Sozialisten, Angestellte, Arbeiter, um ihre Frustration über die Handlungsweise des Premiers auszudrücken“, so die Wissenschaftlerin, die auf Einladung der entwicklungspolitischen Organisation VIDC jüngst in Wien war, „und wir haben tatsächlich eine starke politische Kraft herausgefordert. Erdogans Legitimität war erstmals infrage gestellt. Zuvor hätte das niemand für möglich gehalten.“

"Gezi"-Partei gegründet

Doch jetzt habe die Bewegung an „Energie und Momentum“ verloren. Es werde teilweise immer noch an dem Netzwerk geknüpft, doch „es ist noch zu früh von einem politischen Projekt zu sprechen, das eine echte Alternative zu den herkömmlichen Parteien“ darstellen könnte. Bekir Agirdir, Direktor und Miteigentümer des Umfrageinstituts Konda, sieht dafür auch mittelfristig keine Chance: „Gezi hat noch nicht die Kraft und Größe, eine neue Partei zu bilden“, sagte der Demoskop der FAZ.

Dennoch gründete der 37-jährige Rockmusiker Cem Köksal jetzt eine „Gezi-Partei“. Ziel sei der Einzug ins Parlament – derzeit benötigt man dazu zehn Prozent der Wählerstimmen. Obwohl die neue Gruppierung auf Facebook bereits 24.000 Anhänger hat, löste der Vorstoß bei der heterogenen Protestbewegung Skepsis, mancherorts gar Schmunzeln aus.

Die traditionelle Opposition – die kemalistische CHP und die nationalistische MHP – stufen die beiden Wissenschaftler als zu schwach ein, um Erdogan wirklich gefährlich werden zu können. Vor allem auch deswegen, weil sich der Wirtschaftsboom seit Beginn der AKP-Ära 2002, der zuletzt aber ein paar Dellen abbekommen hat, in einer Steigerung des Wohlstandes für die meisten Türken niedergeschlagen habe. Die Folge: Im Zuge der Gezi-Park-Prügeleien waren die AKP-Zustimmungswerte kurzzeitig eingebrochen, erreichten zuletzt aber wieder das alte Niveau von rund 50 Prozent.

Wahl als Stimmungstest

Zum ersten Stimmungstest kommt es bei den Kommunalwahlen im Frühjahr 2014. Gelingt der AKP dabei ein überzeugender Erfolg, könnte der Premier sein Lieblingsprojekt mit frischem Elan vorantreiben: Eine neue Verfassung, die den Staatspräsidenten mit weit reichenden Vollmachten ausstattet. Auf dieser Basis könnte er dann selbst für das Amt, das bisher bloß repräsentativen Charakter hat, kandidieren – und als zweiter Atatürk in die Geschichtsbücher eingehen (wollen). Demet Dinler zu dazu: „Erdogan als starker Präsident? – Eine Horror-Vorstellung!“

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