Erdogan riskiert einen "Bürgerkrieg"

Der Präsident verschärft die Gangart gegenüber den Kurden: Luftangriffe auf PKK-Stellungen.

Ankara setzt gegenüber den Kurden in der Türkei offenbar wieder auf volle Härte." Mit diesen Worten kommentiert der türkisch-kurdische Publizist Irfan Aktan im KURIER-Gespräch die jüngsten Medienberichte über Angriffe der türkischen Luftwaffe auf mutmaßliche Stellungen der PKK im Südosten der Türkei in der Grenzregion zum Irak. Es waren die ersten seit Beginn des Friedensprozesses mit der Kurden-Guerilla Ende 2012. Diesen sieht der 33-Jährige jetzt de facto vor dem Aus.

Warum verschärft Ankara gerade jetzt wieder die Gangart? Darauf hat der Autor eine zweifache Antwort. Erstens wolle der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan damit (zumindest innenpolitisch) von den blutigen Vorgängen in der nordsyrischen Grenzstadt Kobane (siehe rechts) ablenken. Zum zweiten sei er schon als Premier aggressiv und autoritär aufgetreten, seinen klaren Sieg bei den Präsidentschaftswahlen im August würde er nun als Bestätigung dieses Kurs interpretieren.

Kriminalisierung

Die Leidtragenden seien die Kurden, meint Irfan Aktan, der sich wieder an die düsterste Zeit der Repression in den 1990er-Jahren erinnert fühlt. "Erdogan kriminalisiert kurdische Demonstranten in der Türkei als Vandalen", analysiert der Publizist, "und er schürt den Konflikt zwischen Nationalisten beziehungsweise Islamisten und den Kurden" – um dann umso härter durchgreifen zu können.

"Erdogan bekämpft lieber die PKK als den ,Islamischen Staat‘", sagt Aktan, der auf Einladung der entwicklungspolitischen NGO VIDC in Wien war. Es gehe um eine Schwächung der Untergrundbewegung, die engstens mit der politischen und militärischen Führung der syrischen Kurden verwoben sei und weiterhin starke Mobilisierungskraft habe. So habe die PKK zuletzt starken Zulauf an kampfbereiten Männern und Frauen verzeichnet.

Alle Augen der Kurden in der Türkei richteten sich derzeit jedenfalls auf Kobane, wo Einheiten des syrischen PKK-Ablegers YPG die Stadt gegen die Terroristen des "Islamischen Staates" (IS) verteidigen. "Setzen sich die Kurden durch, die dort ja drei selbst verwaltete Kantone errichtet haben, werden das auch die türkischen Kurden fordern. Fällt Kobane hingegen, werden sie Ankara dafür verantwortlich machen", betont der Experte, "und das könnte dann in einen Bürgerkrieg in der Türkei münden."

Ein Triumph des IS in der derzeit so umkämpften Stadt würde den gesamten Raum weiter destabilisieren: In Syrien würde es dann zu weiteren Massakern der selbst ernannten "Gotteskrieger" an den Kurden in den verbliebenen zwei Kantonen kommen. Und auch in der bisher relativ friedlichen kurdischen Autonomieregion im Nordirak würden die Kobane-Schockwellen zu spüren sein: "Die kurdische Bevölkerung dort würde dann ihren Führer Barzani unter Druck setzen, die einigermaßen guten Beziehungen zu der Türkei zu beenden", glaubt Irfan Aktan.

Das pragmatische Verhältnis zwischen Ankara und Erbil hat vor allem einen – ökonomischen – Grund: Die irakischen Kurden brauchen die Türkei für ihre Erdölexporte, und türkische Unternehmen machen seit geraumer Zeit blendende Geschäfte in der boomenden Zone.

Mehr Rechte

Wolle Erdogan eine echte Aussöhnung mit den türkischen Kurden, so müsse er ihnen nicht nur kulturelle, sondern auch politische, soziale und wirtschaftliche Rechte einräumen, sagt der Publizist, "doch dazu ist er offenbar keineswegs bereit".

Laut einem Bericht der Menschenrechtsorganisation Amnesty International (AI) machen sich die irakischen Streitkräfte massiver Menschenrechtsverstöße zumindest mitschuldig. Grund dafür sei vor allem die Schwäche der regulären Einheiten und die damit einhergehende Stärke irregulärer Milizen. Laut dem Bericht ist die Ermordung Dutzender Zivilisten dokumentiert, insgesamt blieben mehrere Hundert Personen verschollen. Viele Tote seien gefesselt und mit Schusswunden im Kopf gefunden worden.
Für Geiselnahmen und Ermordungen verantwortlich gemacht werden schiitische Milizen, die zuweilen irakische Uniformen tragen, von regulären Einheiten somit nicht zu unterscheiden sind, aber keinen staatlichen Stellen unterliegen. Die Behörden würden diesen Einheiten freie Hand lassen.

Seitens des IS werden diese Morde propagandistisch ausgeschlachtet und fördern erst recht den von ihm zelebrierten „Verteidigungsmodus“ der Organisation. Der Vormarsch des IS hat indes erneut 180.000 Menschen in die Flucht getrieben. So viele seien aus der Stadt Hit geflohen, als der IS diese überrannt habe, hieß es laut UNO.
Wie dem Vormarsch des IS Einhalt geboten werden kann, berieten am Dienstag Top-Militärs aus 20 Staaten in Washington. Die Luftschläge der US-geführten internationalen Allianz gehen derweil weiter. Im belagerten Kobane zeigen sie anscheinend auch erste Wirkung. Die kurdischen Verteidiger haben nach eigenen Angaben einen wichtigen Hügel nahe der Stadt zurückerobert.

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