IS in Syrien auf dem Vormarsch

Die Dschihadisten nahmen den letzten noch von Regierungstruppen kontrollierten Grenzübergang zum Irak ein.

Die Terrormiliz IS soll nach Geländegewinnen in Zentralsyrien jetzt mehr als 50 Prozent der Landesfläche unter ihrer Kontrolle haben. Nach der Eroberung der historischen Wüstenstadt Palmyra in Zentralsyrien nahmen die Dschihadisten am Donnerstag den letzten noch von Regierungstruppen kontrollierten Grenzübergang zum Irak ein. "Syrien hat seinen letzten Übergang nach Irak verloren, nachdem sich Regierungstruppen aus dem Gebiet zurückgezogen hatten", sagte Rami Abdel Rahman, Leiter der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte. Mit der Einnahme des Übergangs Al Walid Tanef haben die Dschihadisten einen Großteil der Grenzlinie zwischen Syrien und dem Irak unter ihre Kontrolle gebracht. Ein Teil der Grenze im Nordosten wird noch von kurdischen Einheiten kontrolliert.

Exekutionen in Palmyra

Nach ersten Exekutionen von Regimeanhängern in Palmyra wächst außerdem die Sorge um das Unesco-Welterbe. Eine Zerstörung der archäologischen Stätten Palmyras wäre nach Einschätzung von Unesco-Chefin Irina Bokowa ein "enormer Verlust für die Menschheit".

Die IS-Milizen sollen am Donnerstag mindestens 17 Menschen hingerichtet haben. Die Opfer waren Soldaten und Unterstützer des Regimes in Bagdad, teilte die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrecht am Abend mit. Sie seien enthauptet worden. Damit sei die Zahl der Hinrichtungen in der Region seit Beginn der IS-Offensive vor wenigen Tagen auf insgesamt 66 gestiegen.

Die IS-Terrormiliz hatte Palmyra am Mittwochabend vollständig unter ihre Kontrolle gebracht und auch die archäologischen Stätten im Südwesten der Stadt eingenommen, wie die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrecht bestätigte. Auch der IS meldete über seinen Radiosender Al-Bayan die Einnahme der Stadt. Die einzigartigen Ruinen Palmyras aus den ersten Jahrhunderten nach Christus gehören zum Unesco-Weltkulturerbe. Die einstige Handelsmetropole gilt als einer der bedeutendsten Komplexe antiker Bauten im Nahen Osten.

Aktivisten aus der Stadt erklärten, bisher habe es keine Zerstörungen gegeben. Der Leiter der syrischen Museums- und Altertumsbehörde, Mamoun Abdul-Karim, sagte laut der staatlichen Nachrichtenagentur Sana, Hunderte Statuen seien vor dem IS-Einmarsch an einen sicheren Ort gebracht worden.

Zerstörung von Kulturstätten bereits im Irak

Die Angst vor Zerstörungen ist durchaus berechtigt. Im Nordirak hatten IS-Anhänger im Frühjahr bereits einmalige Kulturstätten zerstört, darunter die Ruinen der Jahrtausende alte Stadt Nimrud und die Grabungsstätte Ninive. Die altorientalischen Überreste stellen nach der radikalen Islam-Interpretation der Dschihadisten Kultstätten "Ungläubiger" dar. Nach dieser Lesart sind auch Bilder und figürliche Darstellungen von Menschen verboten.

USA rechnen mit jahrelangem Kampf gegen IS

Wie gegen IS vorgehen, darüber scheiden sich die Geister: Josh Earnest, der Sprecher im Weißen Haus, geriet zu der Causa unter schweren verbalen Beschuss. Nach den Erfolgen der Terrormiliz in Syrien und im Irak bombardierten die Journalisten ihn mit Fragen, auf die er nur schwer eine Antwort finden konnte. Doch eines machte er unmissverständlich klar: "Dies wird eine Herausforderung, die der nächste Präsident bewältigen muss". Mindestens drei Jahre werde der Krieg gegen die Dschihadisten noch dauern - und das sei nur die erste Phase des Kampfes. Während sein Sprecher Tacheles redet, versucht sich der "Commander in Chief" im Schönreden: Im Atlantic Magazine spricht Barack Obama lediglich von einem "taktischen Rückschlag". Trotzig hält er am Prinzip Hoffnung fest: "Nein, ich glaube nicht, dass wir verlieren." Wörtlich: "Wir befinden uns seit acht Monaten in einem Kampf, von dem wir immer gesagt haben, dass es sich um eine mehrjährige Kampagne handeln wird."

Pentagon ist alarmiert

Das Pentagon ist durch den Fall der irakischen Stadt Ramadi und der antiken Ruinenstadt Palmyra in Syrien alarmiert. Man werde 2000 weitere Panzerabwehrraketen liefern, erklärte eine Pentagonsprecherin am Donnerstag. Die Waffen könnten schon in kommende Woche eintreffen. Außerdem seien bereits mehr als 20 Millionen Schuss für kleine Waffen und 12.000 Mörsergranaten an die irakische Armee unterwegs.

Dabei sah es noch vor Wochen so aus, als befände sich die sunnitische Terrormiliz eher in der Defensive. Im Jänner meldeten Kurden nach erbitterten Kämpfen die Befreiung von Kobane nahe der türkischen Grenze. Im März nahmen irakische Regierungstruppen nach mehreren gescheiterten Anläufen Tikrit ein, die Heimatstadt des früheren sunnitischen Diktators Saddam Hussein. Fast täglichen meldeten US-Militärs Erfolge ihrer Luftschläge gegen die IS - der Einsatz amerikanischer Bodentruppen ist dagegen für Obama tabu.

Langzeitstrategie "Degrade and Destroy"

"Degrade and Destroy" - Schwächen und Zerstören - nennen US-Militärs die Langzeitstrategie gegen die anstürmenden islamischen Milizen. Ausdrücklich verwies Obama-Sprecher Earnest auf Äußerungen seines Chefs, dass allein die erste Phase 36 Monate dauern dürfe.

Doch Kritik am zögerlichen Vorgehen Obamas wird immer lauter. "Ganz egal, wie sehr Pentagon und Weißes Haus das herunterspielen, der Fall von Ramadi zeigt, dass die Strategie von Präsident Obama versagt", kommentiert das Wall Street Journal. Der Plan, irakische Regierungstruppen zu stärken und Stammeskämpfer gegen die IS einzusetzen, klinge zwar gut - habe aber nicht funktioniert. Das Blatt schlägt den Einsatz von 10.000 US-Truppen vor. Kombiniert mit einem massiven Luftkrieg, dem Einsatz von irakischer Regierungstruppen sowie und kurdischer Verbände könnte der Kampf erfolgreich sein. "Aber mit jedem Monat wird diese Aufgabe schwieriger und die Kosten werden höher."

Die Oasenstadt Palmyra in den Händen der Terrormiliz "Islamischer Staat" – das hat die von IS-Grausamkeiten seit mehr als einem Jahr geschockte Welt noch einmal mehr aufgeschreckt. Abgesehen von bereits kolportierten Köpfungen in der Stadt und Berichten über das von der verbündeten Al Nusra-Front eroberte Krankenhaus drohen unermessliche Kulturschätze verloren zu gehen. Baal-Tempel, Amphitheater, Kolonnaden an der antiken Prachstraße aus dem ersten Jahrhundert nach Christus: die Ausgrabungen (UNESCO-Welkulturerbe) zählen zu den beeindruckendsten der Welt.

Aber Palmyra hat für die Islamisten eine weit darüber hinausgehende Bedeutung. Die ehemals 200.000-Einwohner-Stadt liegt an Verbindungsstraßen nach Homs und Damaskus – die syrische Hauptstadt ist über kurz oder lang das eigentliche Ziel des IS.

In der Nähe der Oasenstadt liegen große Gasfelder, die sich der IS als Einnahmequelle sichern will (zuletzt hatte er mit Gebietsverlusten auch einige Geldquellen eingebüßt).

Im eroberten Palmyra liegt ein Militärflughafen des syrischen Regimes. Möglicherweise ist der IS auch in den Besitz von Kampfflugzeugen gekommen.

Und schließlich befand sich in Palmyra eines der berüchtigsten Foltergefängnisse des Assad-Regimes.

Die Zerstörung der antiken Stätten hätte, wie zuvor in Ninive und Nimrud im Irak, vor allem symbolische, der Verkauf der geplünderten Schätze finanzielle Bedeutung.

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