Wie Molenbeek zur Terror-Hochburg wurde

Brennpunkt Molenbeek: Vor wenigen Jahren schien der Bezirk zum kultigen Künstlerviertel zu werden – doch dann ging vieles schief
Von Madrid über Paris bis Brüssel – alle Terror-Spuren führen irgendwann in das einstige Künstlerviertel im Herzen Europas.

"Sie wollen also nach Molenbeek? Dann sicher in die Rue des Quatre-Vents Nummer 79, zu Salah Abdeslam, oder?", fragt der junge Mann im benachbarten Stadtteil Anderlecht. Wer einen Stadtplan in der Hand und eine Kamera umgebunden hat, der kann nur an jene Adresse wollen, die in Brüssel mittlerweile jedes Kind kennt. Denn der Stadtteil ist seit den Paris-Anschlägen nicht nur Anziehungspunkt für Journalisten, sondern auch für Touristen, wie es im lokalen Tourismusbüro heißt. Die Welt will sehen und verstehen, wie es dazu kam, dass dieser Bezirk zur Terror-Hochburg Europas wurde. Wie konnten sich Menschen wie der Paris-Attentäter Abdeslam hier so radikalisieren?

Gespaltene Stadt

Wie Molenbeek zur Terror-Hochburg wurde
Wer das verstehen möchte, muss erst einmal den Aufbau Brüssels kennen. Es ist ein Treppenwitz der Geschichte, dass ausgerechnet die Hauptstadt des vereinten Europa selbst in 19 Bezirke tief zersplittert ist. Die Bezirkschefs sind so mächtig wie die Landeshauptleute in Österreich. Straßen enden mitunter an Bezirksgrenzen. Einsam statt gemeinsam heißt hier der unausgesprochene Leitspruch. Direkt neben dem noblen Stadtzentrum liegen über einem Kanal in der Größe des Wiener Donaukanals die nun als Brennpunkte ausgemachten Bezirke Anderlecht und Molenbeek. Von hier stammen die Terroristen von Brüssel und Paris, hierhin zogen sie sich zurück. Schon 2004 gab es Spuren in diese Distrikte – nach den Anschlägen auf die Züge in Madrid.

Dabei stand Molenbeek vor zehn, fünfzehn Jahren eigentlich auf dem Sprung zum kultigen Künstlerviertel, nicht zum Epizentrum des Islamismus. Es hätte ein Bezirk werden können wie in Wien Neubau oder die Josefstadt. Ein Treffpunkt für die Bobos, die Bohème der Großstädte. Künstler kauften reihenweise Wohnungen, die Grundstückspreise stiegen an.

Doch Molenbeek war nie ein Multikulti-Ort, hier leben fast ausschließlich Marokkaner. Ein Stück Casablanca oder Marrakesch in Europa – lautete die Hoffnung. Doch es gab keine Jobs, es gab nicht einmal Bars. Die nun berüchtigte Rue des Quatre-Vents Rue beherbergt aktuell zwei Gemüsehändler und Omar, den Halal-Hendlbrater. Am nahen Hauptplatz findet man eine Apotheke und noch einen Gemüsehändler, das war es. Der Großteil der Bewohner spricht nur Französisch, die Arbeitslosenquote liegt bei 30 bis 40 Prozent.

Als Schuldiger für den Umschwung wird von vielen der Sozialist Philippe Moureax ausgemacht, er war von 1992 bis 2012 Bürgermeister von Molenbeek. Er soll eine "Politik des Wegschauens" betrieben haben, so der Vorwurf. Während in der Innenstadt feinste Schokolade feilgeboten wird, erinnert Molenbeek an das graue Wien der 80er-Jahre: Viele Einzelhändler, Hinterhofwerkstätten und kaum Lokale. Ein "Charme", wie man ihn heute mitunter in Außenbezirken findet. Doch Molenbeek ist kein Außenbezirk, der weit weg ist, er grenzt unmittelbar an die Innenstadt. In fünf Minuten ist man am Großen Platz und kann goldene Häuser sehen; gut zehn Minuten sind es zu Fuß zum schicken EU-Viertel mit den Hochhäusern, den Limousinen und den Anzugträgern. Wenn man keine Hoffnung hat und das ständig sieht, dann ist der Schritt zu Radikalisierung offenbar nicht mehr so weit.

Die Warner zogen weg

Die Künstler sind in den vergangenen Jahren alle weggezogen. Es gab zu viel Kleinkriminalität und Bekehrungsversuche auf offener Straße. Das war den meisten zu viel. Frauen wurden auf der Straße angepöbelt. Salafismus und Islamismus fanden einen Nährboden. Die mahnenden Stimmen der Künstler, die flüchteten, wurden nicht mehr gehört. Denn irgendwann war niemand mehr da, der warnen konnte.

"Es ist tagsüber nicht gefährlich dort, da gehe ich auch hin", berichtet ein Belgier. "Nur in der Nacht sollte man es meiden. So wie die Bronx in New York." Die vielen moderaten Bewohner haben belgische Fahnen im Fenster – als Zeichen für ihre Anteilnahme. "Ich bin aus Tunesien weg, weil ich den Terror nicht mehr ausgehalten habe", erzählt eine junge Frau. "Nun ist es hier genauso. Schrecklich."

Ganz Brüssel hat ein anderes Gesicht bekommen. Es patrouillieren Soldaten, die Innenstadt ist gesperrt, keine Minute vergeht ohne lärmendes Sirenengeheul. Das Herz Europas ist schwer getroffen. Die Bahnstation im Zentrum wird zum traurigen Symbolbild: Am Tor zu(m) Europa(platz) stehen Soldaten mit Maschinenpistolen – während Bürger mit Furcht in den Augen durch die Glastüre nach draußen schauen.

"Es ist schrecklich, aber das ist das neue Europa", sagt Jerome Lagae kopfschüttelnd. Er wollte am Montag von Brüssel nach Genf fliegen; der Anschlag wenige Stunden zuvor hat das verhindert. Nun steht er wie Hunderte andere in der Schlange vor dem Bahnhof. Denn am Tag nach dem Terror muss jeder seine Tasche leeren und wird abgetastet. Das ist das neue Europa.

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Bevölkerung

Der Stadtteil Brüssels ist knapp sechs Quadratkilometer groß, beherbergt aber fast 100.000 Menschen. Damit ist die Bevölkerungsdichte doppelt groß wie im Schnitt der Großregion Brüssel.

Muslime

Vier von zehn Einwohnern Molenbeeks sind Muslime, vor allem marokkanischer Herkunft.

Arbeitslosigkeit

Ein Drittel der Stadtteilbewohner hat keinen Job, unter den Jugendlichen jeder Zweite.

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