Flüchtlinge harren an verriegelter Grenze zur Türkei aus

Flüchtlinge harren an verriegelter Grenze zur Türkei aus
Die Regierung in Ankara beteuert Festhalten an Einlass für syrische Schutzsuchende.

Tausende syrische Familien aus der umkämpften Region Aleppo haben am Samstag vor der gesperrten Grenze zur Türkei ausgeharrt. Bis zum Nachmittag blieb der Übergang Öncüpinar geschlossen. Die Türkei versicherte zugleich, sie halte an ihrer "Politik der offenen Grenze" fest. US-Außenminister John Kerry warf Russland unterdessen vor, bei seinen Luftangriffen in Syrien zahlreiche Zivilisten zu töten.

"Die Lage ist dramatisch", sagte der Leiter der oppositionsnahen Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte, Rami Abdel Rahman, über die Bedingungen an der Grenze. Familien schliefen in der Kälte in Zelten und Lagern. Die türkische Hilfsorganisation IHH durfte über mit rund acht Lkw die Grenze, um den Menschen das Nötigste zu bringen: Wasser, Lebensmittel und Decken. Nach türkischen Presseberichten haben die türkischen Behörden einen Notplan zum Empfang von Flüchtlingen vorbereitet. Seit Freitag werden neue Zelte in einem bereits bestehenden Lager in der Nähe des Grenzübergangs aufgestellt.

40.000 Menschen aus Aleppo geflohen

Der Gouverneur der südtürkischen Grenzprovinz Kilis erklärte, in den vergangenen 48 Stunden seien rund 35.000 Syrer angekommen, die in Lagern auf der syrischen Seite der Grenze versorgt würden. Mit weiteren 70.000 Flüchtlingen sei zu rechnen, wenn die syrische Regierungstruppen unter dem Schutz russischer Luftangriffe weiter auf Aleppo vorrückten. "Unsere Türen sind nicht geschlossen", sagte Gouverneur Süleyman Tapiz in Öncüpinar. "Aber momentan besteht keine Notwendigkeit, diese Leute innerhalb unserer Grenzen zu versorgen."

In den vergangenen Tagen flohen rund 40.000 Syrer aus Aleppo vor der dortigen Regierungsoffensive - allein 20.000 Schutzsuchende strandeten der UNO zufolge in Bab al-Salam auf syrischer Seite gegenüber von Öncüpinar. Die Provinz Aleppo ist eigentlich eine Hochburg der Aufständischen, wird aber in Teilen von vielen weiteren Kräften kontrolliert - von Regierungstruppen, der Dschihadistengruppe "Islamischer Staat" (IS) sowie kurdischen Streitkräften. Unterstützt durch russische Luftangriffe konnten syrische Regierungstruppen die Aufständischen seit Montag deutlich zurückdrängen. Bei einer Einnahme der gesamten Großstadt Aleppo durch die Regierungstruppen rechnet die Türkei mit Zehntausenden zusätzlichen Flüchtlingen.

"Politik der offenen Grenzen" für Kriegsflüchtlinge

Der türkische Außenminister Mevlüt Cavusoglu sagte dazu als Gast beim EU-Außenministertreffen in Amsterdam, Ankara werde seine "Politik der offenen Grenze für diejenigen beibehalten, die vor der Aggression des Regimes und den Luftangriffen Russlands fliehen". Wann die Grenze für die Wartenden geöffnet werden soll, sagte er nicht. "Wir haben bereits 5000 von ihnen aufgenommen und 50.000 bis 55.000 sind auf dem Weg", sagte Cavusoglu.

Zuvor hatte EU-Erweiterungskommissar Johannes Hahn die Türkei an die Genfer Konvention erinnert, "wonach Flüchtlinge aufzunehmen sind" und zur Öffnung der Grenzen gemahnt. Auch die Außenbeauftragte Federica Mogherini erinnerte die Türkei an ihre "moralische und rechtliche Pflicht", Schutzsuchenden zu helfen. Der luxemburgische Außenminister Jean Asselborn forderte rasche Gespräche mit Russland, um ein Ende der syrischen Offensive in der Provinz Aleppo zu erreichen. "Es kommt mit großer Wahrscheinlichkeit eine große Flut von Menschen auf uns zu", warnte er.

USA: Russland greift Krankenhäuser an

US-Außenminister Kerry erklärte unterdessen, durch die russischen Angriffe in Syrien würden Zivilisten "in großer Zahl" getötet. Er warf Russland vor, auch Krankenhäuser und Rettungskräfte anzugreifen. "Das muss aufhören." Die russische Führung forderte er zudem, sich für einen Waffenstillstand in Syrien einzusetzen.

Moskau hatte zuvor Vorwürfe westlicher Staaten zurückgewiesen, mit seiner militärischen Unterstützung der syrischen Regierungstruppen die Syrien-Friedensgespräche in Genf torpediert zu haben. Der russische UNO-Botschafter Vitali Tschurkin bezeichnete diese Kritik als "geschmacklos". Zugleich kündigte er an, Russland werde bei einem internationalen Treffen in München am kommenden Donnerstag "neue Ideen" unterbreiten.

260. Menschen seit 2011 getötet

Neben Russland unterstützt auch der schiitische Iran die syrische Führung. Teheran äußerte sich am Samstag zur Bereitschaft des rivalisierenden sunnitischen Königreichs Saudi-Arabien zur Entsendung von Bodentruppen nach Syrien. Das werde Riad "nicht wagen", weil es einem Suizid gleichkomme, sagte der Leiter der Revolutionsgarden, Generalmajor Ali Jafari, laut der Nachrichtenagentur Fars.

Auch die syrische Führung warnte vor der unaufgeforderten Entsendung ausländischer Bodentruppen. Jegliche Intervention am Boden ohne Zustimmung von Damaskus sei eine "Aggression", sagte Außenminister Walid al-Moualem (Muallem). "Wir versichern euch, dass jeder Aggressor in einem hölzernen Sarg heimkehren wird."

Im syrischen Bürgerkrieg wurden seit März 2011 rund 260.000 Menschen getötet. Begonnen hatte der mittlerweile hoch komplexe Konflikt mit der Unterdrückung regierungskritischer Proteste.

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