Stimmen aus Aleppo: "Bete für mich, dass ich nicht sterbe"

In Aleppo rüsten sich Regierungstruppen und Rebellen zur großen Entscheidungsschlacht. Für die verbliebene Bevölkerung im östlichen Teil der Stadt wird die Lage immer dramatischer. Nachrichten aus der Hölle.

Eigentlich ist Karim Abdullah (Name geändert) Lehrer. Er unterrichtete an einer Schule im Osten Aleppos und an der Universität, aber das ist alles schon lange her. Auch ein kleiner Elektroladen gehörte ihm, dort reparierte er in seinem Viertel für die Nachbarschaft Radios und TV-Geräte. Karim mochte seinen Beruf, mit den Kindern täglich arbeiten, ihnen etwas beizubringen. „Kinder sind ein Geschenk Gottes“, sagt er.

Wann er zuletzt vor einer Schultafel stand, daran kann er sich nicht mehr erinnern. Karim ist jetzt Soldat. Kreide und Lehrbuch hat er aber nicht gegen Kampfanzug und Maschinenpistole getauscht. Karim ist einer jener Revolutionäre, die ohne Waffe gegen das Regime kämpfen, so beschreibt ihn der deutsche Journalist Carsten Stormer, der Karim vor drei Jahren in Aleppo getroffen hat. Anstatt auf Menschen zu schießen, unterstützt der heute 49-Jährige als eine Art Ich-NGO die notleidende Bevölkerung, hilft dort, wo es keine Hilfe mehr gibt; organisiert Lebensmittel, Spenden, Begräbnisse. „Ich werde nur mit der Waffe kämpfen, wenn man mich dazu zwingt“, sagt Karim.

Stimmen aus Aleppo: "Bete für mich, dass ich nicht sterbe"

Über Facebook-Messenger, WhatsApp und in kurzen Telefonaten berichtet er, immer wenn er kurz Internet hat, aus dem umkämpften Ostteil der Stadt, der von Rebellen der Freien Syrischen Armee, Islamisten und Dschihadisten kontrolliert wird.

Es sind Berichte des Grauens, für westliche Beobachter kaum vorstellbar. Karim berichtet von stundenlangen Luftangriffen, hungernden Menschen, die in Ruinen hausen und kein Geld mehr für Lebensmittel haben. Er erzählt von Verletzen, die nicht mehr medizinisch versorgt werden können, von Kindern, die elternlos und schwer traumatisiert zwischen den zerbombten Häusern umherirren. Er erzählt von einer Witwe, der er gerade hilft, und deren Ehemann und deren drei kleine Kinder vorgestern bei einem Luftangriff ums Leben gekommen sind. Auch kurze Videos und Fotos schickt er über WhatsApp, sie zeigen das Grauen, den Schrecken aber nur erahnen lassen. Es sind Bilder von toten Kindern, schwerverletzten Menschen, die nur schwer zu ertragen sind. An manchen Tagen, sagt er, zählen wir dutzende Luftangriffe. „Wir haben kein Geld mehr um Lebensmittel zu kaufen, Wasser gibt es kaum noch, auch die ärztliche Versorgung ist komplett zusammengebrochen. Die Russen haben alle Krankenhäuser zerstört.“

Seine Mails beendet er, wie auch jedes Telefonat, mit dem Satz „Bete für mich, dass ich nicht sterbe und ich mich morgen wieder bei dir melden kann.“ Ohne Menschen wie Karim würden derzeit kaum Informationen aus der Stadt sickern. Für westliche Journalisten ist Ost-Aleppo, in dem immer noch rund 300.000 Menschen leben, derzeit eine No-Go-Area. Es ist eine Reihe von Aktivisten wie Karim, die unter Lebensgefahr westliche Medien mit Informationen versorgen.

Seit Wochen erlebt die Stadt die schwersten Kämpfe der vergangenen Monate mit dutzenden Toten auf beiden Seiten. Das Regime zog mit Hilfe russischer Bombardements einen Belagerungsring um die Stadt. Der östliche Teil wurde über Tage komplett abgeriegelt, die gesamte Stadt, auch der von der Regierung kontrollierte Westteil, sind seit rund einer Woche von der Trinkwasserversorgung abgeschlossen. Betroffen sind davon rund zwei Millionen Menschen.

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Kämpfer der Opposition in Aleppo.
„Die Lage in der Stadt wird für die Menschen immer katastrophaler, die komplette Infrastruktur ist zerstört, die Stadt ist mittlerweile eine Ruine, es fehlt den Menschen an allem“, sagt Majad Radwan. Der aus Aleppo stammende Syrer, der an der Universität Damaskus Wirtschaft studierte, arbeitet für die NGO „ Sons of the War“, die in Kilis auf der türkischen Seite der Grenze stationiert ist. Von hier aus werden Hilfstransporte nach Aleppo organisiert. Er selbst pendelt, wenn es die Sicherheitslage erlaubt, so oft wie möglich in die 65 Kilometer entfernte Stadt.

Die größten Probleme seien derzeit die fehlenden Grundnahrungsmittel und Benzin, sagt er. So gibt es kaum noch Mehl für Brot. Die Menschen stehen stundenlang vor den wenig verbliebenen Bäckereien Schlange, in ständiger Angst vor Luftangriffen des Regimes. „Sie werfen gezielt Fass- oder Brandbomben auf Menschenansammlungen ab“, schreibt Karim. Er selbst musste einen Fassbomben-Angriff auf Zivilisten mit zahlreichen Toten vor einer Bäckerei miterleben. Es sei für ihn das schlimmste Erlebnis des Krieges gewesen, überall Blut und zerfetzte Leichen, Männer, Frauen, Kinder.

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„Derzeit versuchen wir, das Nötigste in die Stadt zu bringen“, sagt Majad Radwan. Den Rebellen ist es gelungen, den Belagerungsring zu durchbrechen und einen kleinen Korridor freizukämpfen, sichere Fluchtwege für die eingeschlossenen Menschen gibt es aber nach wie vor nicht. „In die Stadt gelangen keine großen LKWs, es können nur kleine Autos für unsere Hilfstransporte verwendet werden, das macht die Lage schwieriger.“ Gebraucht werden vor allem auch Medikamente und Verbandsmaterial.

Nur mehr 35 Ärzte

Durch gezielte Angriffe auf Krankenhäuser und Kliniken können Verletze kaum noch versorgt werden. Allein im Juli habe es laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) zehn Angriffe auf Gesundheitseinrichtungen gegeben. Im Osten der Stadt seien acht von zehn Krankenhäusern sowie 13 von 28 Gesundheitsstützpunkten nur noch teilweise oder gar nicht mehr funktionsfähig. Auf die 300.000 verbliebenen Einwohner, darunter rund 120.000 Kinder, Jugendliche und Frauen, kommen nur noch 35 Ärzte. Sie haben einen dramatischen Hilfsappell an US-Präsident Barack Obama gerichtet.

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Die UNO, aber auch die EU fordert seit Tagen eine 48-stündige Waffenpause, um die Menschen mit dem Nötigsten versorgen zu können. Es drohe eine der schwersten humanitären Tragödien im gesamten Verlauf des syrischen Krieges, hieß es in einer Erklärung. Russland und die USA diskutieren derzeit über Möglichkeiten, die Bevölkerung mit ständigen Hilfslieferungen versorgen zu können. Die Situation der Menschen im Osten Aleppos sei „grotesk“ und auch im Westen der Stadt verschlechtere sie sich, sagte die US-Botschafterin der UN Samantha Power. Die Friedensgespräche müssten dringend wiederaufgenommen werden. Russland hat zumindest ankündigt, dass täglich eine dreistündige Feuerpause eingehalten werden sollte.

Majad Radwan von den "Sons of War" glaubt nicht daran. „Alle Informationen deuten drauf hin, dass es in den kommenden Tagen und Wochen zur großen Entscheidungsschlacht kommen wird“, sagt er. Rund um Aleppo fährt das Regime Panzer auf, Raketen werden in Stellung gebracht. „Wir beobachten große Truppenbewegungen“, sagt er. Auch Karim schreibt von schweren Kämpfen und Luftangriffen, und dass er kürzlich seinen besten Freund an der Front verloren hat.

Eine neue Allianz formiert sich

In Aleppo selbst formierte sich unterdessen eine neue Allianz, der sich alle Widerstandsgruppen, von der Freien Syrischen Armee bis hin zu islamistischen Gruppierungen angeschlossen haben, um gemeinsam gegen das Regime zu kämpfen. Karim bestätigt die Kooperation, er selbst sei gerade in einem Camp für Kämpfer, um dort zu helfen.

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Die neue Einigkeit halten freilich viele Beobachter für äußerst problematisch. Mit ein Grund ist die Fatah-al-Sham-Front, die sich vor kurzem noch al-Nusra nannte und ein Ableger von Al-Quaida war, von der man an sich vergangene Woche losgesagt hat. Dass sich jetzt moderate Islamisten mit Milizen, die Verbindungen zu Terrororganisationen aufweisen, zusammengeschlossen haben, hält Radwan für das kleinere Übel. Auch Karim hofft, dass die neue Allianz binnen weniger Wochen die komplette Stadt zurückerobern wird können. „Die Stimmung unter den Kämpfern ist gut, wir kämpfen mit unseren Herzen, wir werden siegen“, sagt er.

Warum er mit seiner Familie nicht schon längst geflohen ist? „Es hätte genügend Möglichkeiten gegeben, auch dass ich meine drei Kinder zu Verwandten in die Türkei schicke, aber ich habe eine Verpflichtung hier“, sagt er. „Die Welt muss wissen, wie wir hier abgeschlachtet werden, und Gott hat mich bislang vor den Angriffen geschützt, dafür bin ich diese Verantwortung eingegangen, den Menschen hier zu helfen.“

Ob er noch Träume hat? „Jeder Mann hat Träume, meine aber wurden für immer zerstört. Derzeit versuche ich nur mehr den Tag zu überleben.“

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