Generation Chancenlos

Generation Chancenlos
In Spanien sind so viele junge Menschen arbeitslos wie nirgendwo sonst in der Eurozone. Zukunft in der Heimat sehen die wenigsten: Eine ganze Generation wandert aus - wenn auch widerwillig.

Wir zahlen eure Krise nicht", schreit eine junge Frau. An der einen Hand hält sie ihre vierjährige Tochter, in der anderen ein Schild mit Angela Merkel im braunen Hitler-Kostüm. "Warum diktiert eine Deutsche unsere Politik?" Neben ihr pustet ein kahler Mann in eine gelbe Trillerpfeife.

Täglich gehen Menschen aller Altersklassen raus auf die Straßen Madrids, um gegen den Sparkurs zu demonstrieren. An diesem Tag sind es dreihundert. Die Hälfte von ihnen ist unter dreißig. Wie Anníbal. Er steht am Rande des Geschehens, trägt seine Haare lang, dazu ein bedrucktes T-Shirt und zerschlissene Jeans. Wenn die Menge singt, singt er mit. Er beklatscht die Redner, die engagiert ins Megaphon brüllen.

Keine Illusionen

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Anníbal kommt zum letzten Mal. Noch im Oktober wird er Madrid in Richtung Belgien verlassen. Mit seinen letzten Ersparnissen will der Soziologe ein neues Leben beginnen. "Ich habe keinerlei Hoffnung, in Spanien jemals Arbeit in meinem Fachbereich zu finden. Wer eine Zukunft haben will, muss gehen".

Die Jugend der Mittelklasse sieht das Leben ohne die Illusionen ihrer Eltern, welche nach der Diktatur den Traum vom Eigenheim, Fernreisen und Autos mit teuren Hypotheken finanzierten. Jeder Zweite unter 25 ist arbeitslos (in Österreich war es zuletzt jeder Zwölfte): ein historischer Negativrekord in der Europäischen Union. Tausende gut ausgebildete Spanier verlassen deshalb ihre Heimat in Richtung Nordeuropa oder Südamerika. Nicht nur die Krise hat ihre Jobs genommen. Jahrelang entwickelte sich der Arbeitsmarkt in die falsche Richtung. Eine ganze Generation an schlecht bezahlten Akademikern wurde als "Mileuristas" abgestempelt, als "Tausend-Euro-Verdiener". "Früher war die Etikette `Mileurista` sehr abwertend. Heute sind die Menschen froh, wenn sie überhaupt 1000 Euro verdienen", sagt Anníbal mit einem Lachen, das bitter klingt.

"Warum retten sie die Banken und nicht die Menschen?"

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"Die Regierung ist froh uns loszuwerden. Denn ohne uns haben sie weniger Arbeitslose. Doch was bedeutet es für ein Land, wenn die besten Fachkräfte im Ausland arbeiten müssen? Wieso retten sie die Banken und nicht die Menschen?", ärgert sich der Fernsehjournalist Rafael. Denn in Spanien gibt es keine Privatinsolvenz. Während die Banken teure Rettungspakete erhalten, werden Familien aus ihren Wohnungen delogiert und bleiben auf Krediten mit 80-jähriger Laufzeit sitzen.

Bisher hat Rafael mit seiner Berichterstattung protestiert. Nun steht er hier vor der deutschen Botschaft und brüllt Parolen gegen Angela Merkel. "Plötzlich hatte ich immer weniger Freunde, weil alle auswanderten. Niemand soll glauben, dass es uns leichtfällt: Wir tragen einen Konflikt aus, wenn wir gehen." Er blickt sich um, zählt kurz die Demonstranten, schlägt die kräftigen Hände an den Kopf. "Wieso protestieren nicht mehr Menschen? Spanien befindet sich im Krieg. Das Land ist kurz vorm Krepieren, aber die Spanier sitzen zuhause und verweigern die Realität".

Mehr Patriot im Fußballstadion

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Am Rande der Demonstration sitzen zwei Freunde in einer Bar nahe der bekannten Puerta del Sol, Schauplatz der Massenproteste im vergangenen Jahr (siehe Hintergrund unten). "Mit dem Beginn der großen Proteste habe ich gehofft, dass sich etwas ändert. Ich war stolz auf Spanien, das die Ungerechtigkeiten anprangerte. Aber es hat sich nichts geändert, vielmehr verschlechtert". Paco sitzt an dem metallenen Tisch, vor ihm ein kleines Bier und Oliven. Immer wieder nimmt er einen Schluck. Wenn er von seiner Situation spricht, vom Absturz seiner Heimat, wird seine Stimme lauter. Seine Augen glasig. Am Nebentisch lärmt eine Gruppe betrunkener skandinavischer Touristen. Die Luft steht, es riecht nach Paprika-Wurst und Alkohol. "Wer in Spanien kritisiert, gilt als wenig patriotisch. Man ist mehr Patriot im Fußballstadion als auf einer Demo", erklärt er. Die Spanier seien stolz, das Verlassen der Heimat eine unglaubliche Überwindung.

Seit März arbeitet Paco Vollzeit in einem Labor, ohne Bezahlung. Dabei hat er Physik studiert, war im Ausland, hat Praktika absolviert. Wenn er von seinen Studien erzählt, klingt er wie in einem Bewerbungsgespräch. Sein Studienkollege Santiago sitzt neben ihm. In seinem Jahrgang gehörte er zu den Besten, mit 24 Jahren hat er bereits zwei Studien abgeschlossen. "In Spanien habe ich vierzig Bewerbungen verschickt. Ein einziges Gespräch hat sich ergeben, für ein Praktikum. In Deutschland habe ich eine Stelle an einer Universität bekommen. Warum sollte ich hier bleiben?".

Angst vor der Zukunft

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Paco freut sich für Santiago. Auch wenn er gegen Merkel demonstriert: Arbeit in Deutschland, das wünscht er sich auch. Genau wie eine eigene Wohnung und nicht mehr abhängig von den Eltern zu sein. "Ich will mein Zuhause nicht verlassen aber ich habe Angst vor der Zukunft. Ich habe Angst, dass ich hier niemals Pension erhalten werde. Ich habe Angst, dass meine Kinder nicht die gleiche Gesundheitsvorsorge, Sicherheit und Ausbildung haben können, die ich einmal hatte".

Der Kellner kommt, fragt mürrisch ob jemand noch etwas trinken möchte. Die Gläser sind leer, dennoch zögern die zwei. Ein Blick in die lederne Geldbörse, schließlich ein Nicken. Seit die Regierung die Mehrwertsteuer erhöhte, ist alles teurer. "Wir bezahlen für die Krise", sagt Santiago, dann fragt er: "Das Bier in Deutschland soll gut sein, oder?".

Generation Chancenlos

Die großen Proteste begannen im Madrid am 15. Mai 2011, weshalb die Bewegung auch 15M genannt wird.

10.000 Menschen besetzten nach Aufrufen über Facebook und Twitter den Verkehrsknotenpunkt Puerta del Sol. Wochenlange, friedliche Kundgebungen folgten. Die von den Medien benannten "Empörten" richteten Forderungen an die Regierung: weniger Arbeitslosigkeit und Korruption sowie Machteinschränkungen von Banken und Großparteien. In Spanien liegt die Arbeitslosigkeit bei 25 Prozent, die Jugendarbeitslosigkeit sogar bei 52 Prozent. Durch die Auwirkungen Eurokrise, das Platzen der Immobilienblase und die Sparpakete der Regierung Rajoy hat sich die Lage für die Bevölkerung weiter zugespitzt. Spanien hat im Sommer 2012 ein Rettungspaket von bis zu 100 Millionen zugesagt bekommen.

Ende September und Anfang Oktober kam es wieder zu einer Protestwelle in der Hauptstadt. Nicht nur die Jugend demonstriert, ebenso Eltern, Lehrer, Pensionisten. Laut dem Nationalen Institut für Statistik (INE) sind 2012 bereits 114.057 Menschen ausgewandert, der Großteil von ihnen ist zwischen 25 und 35 Jahren alt. Die bevorzugten Zielländer sind Argentinien, die USA, sowie andere EU-Staaten wie Großbritannien, Frankreich und vor allem Deutschland.

Diese Reportage ist im Rahmen von eurotours 2012 entstanden – einem Projekt der Europapartnerschaft, finanziert aus Gemeinschaftsmitteln der Europäischen Union.

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