"Sonst wäre ich auch auf der Liste der Getöteten"

Sie war eine der mächtigsten Politikerinnen der Welt. Erst spät erfuhr Albright, dass ihre Vorfahren im Holocaust ermordet wurden.

Ich habe mich gefühlt wie bei einem Marathon, den man mit schwerem Gepäck laufen und dabei auch noch, mitten im Rennen, den Koffer öffnen muss“, schildert Madeleine Albright (75) den Moment, als sie erfuhr, dass sie eine andere ist, als sie geglaubt hatte. Während des Nominierungsverfahrens zur Außenministerin der USA erhielt die damals 59-Jährige Nachricht, dass ihre Vorfahren Juden waren – und fast keiner den Nazi-Terror überlebt hatte. Die gebürtige Pragerin ging auf Spurensuche und hat darüber ein Buch geschrieben. In Frankfurt gab sie dem KURIER ein Interview.

KURIER: Was haben Sie gehofft, bei der Suche nach dem Schicksal ihre Familie zu finden?

Madeleine Albright: Mit 59 dachte ich, ich weiß alles über mich und über das Land, in dem ich geboren wurde. Aber nichts davon war wahr. Im November 1996, gerade als ich im Nominierungsverfahren als US-Außenministerin war, erhielt ich einen Brief von einer tschechischen Frau. Sie schrieb, dass ihre Familie meine gut gekannt habe und dass sie alle jüdisch gewesen seien. Die Namen, die Orte, alles schien zu stimmen, und so übergab ich diesen Brief den Anwälten des Weißen Hauses. Denn die hatten mich gefragt: Gibt es irgendwas, was wir wissen müssen? Und ich sagte, vielleicht bin ich jüdisch. Sie antworteten: Na und? Präsident Clinton ist kein Antisemit.

Wie ging es weiter?

Ein Washington-Post-Reporter wollte ein Porträt über mich schreiben, er recherchierte auch in Europa. In der ersten Woche meiner Zeit als Außenministerin legte er mir dann diese schrecklichen Dokumente der Nazis auf den Tisch. Die waren so gut organisiert, sie hatten exakte Listen mit Namen – von meinen Familienmitgliedern, wer und wann nach Theresienstadt oder Auschwitz geschickt worden war. Ich war entsetzt, nein, eigentlich kann ich gar keine richtigen Worte finden, um meine Gefühle damals zu beschreiben.

Wann haben Sie begonnen, nachzuforschen?

Als Außenministerin konnte ich nichts unternehmen. Also bat ich meinen Bruder und meine Schwester, nach Tschechien zu fahren und nach den Fakten zu suchen. Später, nach Ende meiner Dienstzeit, habe ich weitergeforscht. Bis heute konnte ich nicht alle Fragen für mich beantworten. Was ich am liebsten wissen würde, ist, was meine Eltern dachten. Aber sie waren zu diesem Zeitpunkt bereits lange tot.

Warum haben Sie entschieden, mit Ihrer Familiengeschichte an die Öffentlichkeit zu gehen?

Sobald diese grauenvolle Geschichte publik wurde, haben mir viele Leute geschildert, dass sie Ähnliches erlebt haben. Das hat mich bestärkt. Indem ich das Schicksal meiner Verwandten in Zusammenhang mit dem historischen Kontext der Weltkriegsereignisse gestellt habe, rede ich nicht nur über mich. Andere werden sich darin wiederfinden.

Wichtig war für mich auch, die geschichtlichen Lehren aus dem Vergangenen zu ziehen. Das Abkommen von München 1938, wo größere Mächte über die Köpfe kleiner Staaten hinweg entschieden haben. Daraus leite ich bis heute die Frage ab: Wann begehrt man auf, wenn jemand, ohne zu fragen, über einen anderen entscheidet?

Viele der historischen Figuren im Buch schildern Sie so lebendig, als hätten Sie sie gekannt?

Ich bin mit einigen dieser Menschen aufgewachsen, ich kenne alle diese Geschichten von meinen Eltern. Jan Masaryk zum Beispiel, der Außenminister der Tschechoslowakei, kam oft zu uns in die tschechische Botschaft in Belgrad. Dort war mein Vater nach dem Krieg Botschafter. Masaryk trug seinen rechten Arm immer in einer Schlinge. Ich fragte meinen Vater, warum. Die Antwort: Weil er mit Kommunisten nicht Hände schütteln will.

Haben Sie keinen Zorn auf Ihre Eltern, weil sie die Wahrheit nie erzählt haben?

Zorn ist das Allerletzte, was ich für meine Eltern empfinde. Das Einzige, was sie wollten, war uns Kinder beschützen. Viele Leute haben schreckliche Sachen über mich geschrieben: Wie ist es möglich, dass eine Frau, die glaubt intelligent zu sein, keine Fragen gestellt hat? Darauf habe ich nur eine Antwort: Wenn Sie eine vollständige Lebensgeschichte haben, wo nichts fehlt, fragt man nicht. Ich hatte keinen Grund anzunehmen, dass mein Leben nicht die ganze Geschichte war. Die tschechoslowakischen Juden vor dem Zweiten Weltkrieg waren sehr säkular, die Generation meiner Eltern sah sich selbst hauptsächlich als tschechoslowakische Patrioten. Auf der Heiratsurkunde meiner Eltern stand bei Religionszugehörigkeit: ohne Bekenntnis.

Ihre Cousine Daša hat es doch gewusst. Sie hat ihre Eltern und ihre Schwester im Holocaust verloren. Hat sie nie darüber mit Ihnen gesprochen?

Daša war während der Kriegsjahre bei meinen Eltern und mir im Exil in London. 1948, als die Tschechoslowakei kommunistisch wurde, kam sie nicht mit uns in die USA. Dann fiel der Eiserne Vorhang, und ich hatte kaum Gelegenheit, in die CSSR zu kommen. Jede Kommunikation war schwierig. Die wenigen Male, die ich sie später in Prag besuchen konnte, hatten wir nie intensive persönliche Gespräche – erst, als plötzlich alles offen lag.

Was waren die schwierigsten Momente für Sie, während Sie das Schicksal ihrer ermordeten Verwandten erforschten?

Wenn man so darüber redet, klingt das so kalt: Als wir 1939 Prag verließen, war ich zwei Jahre alt. Ich habe also keine Erinnerung an meine Großeltern. Für mich waren sie wie Charaktere in einem Buch. Als ich dann später zusammen mit meiner Cousine Daša am Buch arbeitete, fanden wir ein Foto von unseren Großeltern. Daša nannte sie liebevoll „Babičko“, und dann habe ich plötzlich diese Leere gefühlt. Ich habe nie jemanden so genannt, ich hatte nie Großeltern. All die anderen Menschen, die in den Konzentrationslagern starben, das sind nur Namen für mich.

Meine Emotionen zu ihnen führen über meine Eltern. Ihnen gelang das Wunder, das Abnormale normal aussehen zu lassen, meine Kindheit im Exil, in Prag, als Botschaftertochter in Belgrad und dann wieder bettelarm als Exilanten in den USA. Ich habe versucht, mich in meine Eltern hineinzudenken. Nachzuempfinden, was sie fühlten, als sie nach Prag zurückkamen und alle ihre Verwandten waren tot. Ich bin – mit ihnen – schrecklich traurig, aber ich bin ihnen auch so dankbar. In der Pinkas-Synagoge in Prag stehen die Namen der 80.000 getöteten tschechoslowakischen Juden auf einer Wand geschrieben. Wenn meine Eltern nicht ins Exil gegangen wären, stünde heute ihr und mein Name auch dort.

Ein Foto im Buch zeigt Ihre Cousine Milena?

Wir fanden dieses Foto von Theresienstadt in den Archiven, es zeigt eine Kindergruppe während eines Besuches einer IKRK-Kommission. Wochenlang zuvor war in Theresienstadt alles so herausstaffiert worden, als sei das Lager kein KZ, sondern eine Art Erholungsstätte. Auf diesem Foto, mit scheinbar glücklichen Kindern ist ein kleines Mädchen zu sehen, die Milena auf einem anderen Foto mit ihrer Familie gleicht. Das Mädchen trägt auf beiden Fotos auch das gleiche Kleid. Wir wissen es nicht sicher, aber es sieht so aus, als ob es Milena wäre. Was wir mit Sicherheit wissen: Im Oktober 1944 wurde Milena mit einem der letzten Transporte nach Auschwitz geschickt und dort vergast.

Warum konnte Milena nicht entkommen?

Ihr Schicksal ist besonders traurig. Ein reicher amerikanischer Industrieller hatte 1939 einen Transport organisiert, der jüdische Kinder aus der Tschechoslowakei nach England brachte. Eigentlich hätten Daša und die um drei Jahre jüngere Milena dabei sein sollen, aber in letzter Minute entschieden ihre Eltern, dass Milena noch zu klein sei, und so fuhr nur Daša nach London. Vor einiger Zeit sagte Daša zu mir: „Diese Entscheidung werde ich meinen Eltern nie verzeihen.“

Die Scharade in Theresienstadt vor der Kommission empört Sie offenbar noch heute?

Die Inspektoren hatten keine Möglichkeit herauszufinden, ob die Juden aus Theresienstadt in die Vernichtungslager des Ostens transportiert wurden. Aber ihre leichtgläubigen Berichte halfen, die Lügen der Nazis zu untermauern. Viele Leute haben mich gefragt, ob man Lehren aus dieser Scharade ziehen kann: Man kann. Wir senden alle Arten von Inspektoren zu Kriegsschauplätzen oder Gefängnissen oder wo Menschenrechtsvergehen vermutet werden. Diese Missionen müssen besser trainiert werden, damit sie nicht an der Nase herumgeführt werden. Die Inspektoren müssen nachbohren, nicht alles glauben, was man sieht.

Hatte das Wissen um ihre jüdische Vergangenheit Folgen für Ihre Arbeit als Außenministerin?

Ja und nein. Ich bin mit dem Wissen aufgewachsen, wie schlimm das Münchner Abkommen war. Es ist offensichtlich ein Mythos, dass die Leute nicht wussten, wie schlimm Hitler war und was er den Juden angetan hat. Als ich UN-Botschafterin war – und das war, ehe ich über meinen jüdischen Hintergrund erfahren hatte – wusste ich bereits genug über Geschichte, um zu verstehen, was im Krieg in Bosnien vor sich ging. Wir wussten alles und wir konnten nicht erlauben, dass es noch schlimmer würde. Vielleicht haben mich meine tschechoslowakischen Wurzeln darin geleitet, wie ich in Bosnien gehandelt habe.

Sie meinen, Sie wollten die Vertreibungen auf dem Balkan stoppen – in Erinnerung an die Vertreibung der Sudetendeutschen nach dem Krieg?

Als wir, die USA, in den 90er-Jahren gegen die ethnischen Säuberungen auf dem Balkan vorgingen, habe ich oft von meinen Gegnern gehört: Warum bist du so kritisch? Was haben „deine Leute“ nach dem Krieg den Deutschen angetan? Ich hatte als junger Mensch nie gewusst, wie die Tschechen die Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg behandelt hatten. Natürlich aber wusste ich all die schrecklichen Dinge, die die Nazis den Tschechen während des Krieges angetan hatten. Ich wuchs also mit der Idee auf, dass alles, was in Bezug auf die Sudetendeutschen passiert war, wegen der Nazi-Grausamkeiten gerechtfertigt gewesen sei. Erst später fand ich heraus, was die Tschechen mit den Deutschen gemacht haben – sie haben sie verbrannt, erschlagen, in Flüsse gestoßen und aus dem Land vertrieben.

Sie waren auch eine der treibenden Kräfte für die Intervention im Kosovo?

Während meiner Zeit als UN-Botschafterin dachte ich mir immer, dass wir in Bosnien zu langsam gehandelt haben. Als ich Außenministerin wurde, wollte ich es anders machen. Als der Krieg im Kosovo begann, lief es anfangs schlecht und meine Kritiker nannten ihn „Madeleine’s war“. Als wir gewonnen haben, nannten sie ihn dann anders. Im Kosovo gibt es heute eine Generation von 12-jährigen Mädchen, die jetzt Madeleine heißen. Es macht mich traurig, dass es Probleme mit den Serben gibt. Die Tschechen haben die Deutschen so schlecht behandelt nach dem Zweiten Weltkrieg, ich will nicht sehen, dass die Kosovaren ihre moralische Oberhoheit verlieren, indem sie Serben schlecht behandeln, Rache ist etwas Schreckliches.

Werden Sie heute noch auf Ihre Zeit als Außenministerin angesprochen?

Vor Kurzem landete ich auf einem Flughafen in den USA, ging durch die Zollkontrolle, und der Beamte dort schrie: „Oh mein Gott, Sie sind es! Ich bin aus Bosnien. In Bosnien lieben wir Sie alle! Wenn es Sie nicht gäbe, gäbe es kein Bosnien mehr.“ Dann bat er mich um ein gemeinsames Foto, die Schlange hinter uns musste warten. Eine ungeduldige Dame neben mir quengelte: „Was ist das für eine Sache mit Ihnen? Wer sind Sie?“ Ich sagte: „Ich war Außenministerin.“ Und sie: „Von Bosnien?“

Weltpolitik bestimmte ihr Leben – und das von Geburt an: Die Eltern der 1937 in Prag geborenen Madlenka Korbelova flohen unmittelbar vor Beginn des Zweiten Weltkrieges nach London. Wieder zurück in Prag musste die Diplomatenfamilie erneut fliehen, dieses Mal vor den Kommunisten – in die USA.

Das Leben in „Freiheit, Frieden und Demokratie“ sollte, wie sie selbst sagt, fortan das Leitmotiv der hervorragenden Schülerin, Studentin und Politikerin werden.

Als erste Frau erhielt sie den zunächst den Posten der UN-Botschafterin der USA, später ernannte Präsident Bill Clinton die kleine, mit stählernem Willen ausgezeichnete Politikwissenschaftlerin und Juristin zur Außenministerin. Von all den Aufgaben, die sie in ihrem Leben übernommen hat, sei ihr die „der dreifachen Mutter und mehrfachen Großmutter“ am liebsten, sagte sie beim Interview.

Ironie der Geschichte: Eine Schülerin ihres Vaters Joseph Korbel, der an der Uni in Denver Politik unterrichtete, war – die spätere, republikanische Außenministerin – Condoleezza Rice. „Mein Vater“, so Madeleine Albright, „hat zwei amerikanische Außenministerinnen ausgebildet.“

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