Eidgenossen im "Dichtestress"

Viele Menschen, kleines Land: Die Schweiz stimmt heute über die Zuwanderung ab. Helvetien zwischen Globalisierung und Eigenständigkeit

Dichtestress“ heißt der Begriff, der in der Schweiz beste Chancen hat, das Unwort des noch jungen Jahres zu werden. Der Terminus bezeichnet das Unbehagen von Lebewesen, wenn zu viele davon auf einem Haufen sitzen. Das Wort ist zuletzt zu einem Synonym geworden: Dichtestress – es sind zu viele Menschen im Land.

„Es wird eng in der Schweiz“, war auch das Hauptargument der nationalkonservativen SVP, um für ihre „Initiative gegen Massenzuwanderung“ zu werben, über die heute abgestimmt wird. Das Plebiszit fordert die Wiedereinführung von Kontingenten, was der EU sowie der schweizerischen Wirtschaft Kopfzerbrechen bereitet. Denn wird die Zuwanderung wieder eingedämmt, würde das wohl die Aufkündigung diverser Verträge nach sich ziehen. Mit der EU ist Personenfreizügigkeit vereinbart – das geht nicht mit geschlossenen Grenzen. Wie eine Reihe Dominosteine könnten dann auch die anderen Abkommen fallen, befürchten Kritiker.

Doch die Argumente für eine Beschränkung waren zumindest mehrheitsfähig: Die SVP konnte auch Gesellschaftsschichten mobilisieren, die mit Fremdenfeindlichkeit nichts am Hut haben. Was sie stattdessen haben, ist „Dichtestress“: Sie leiden an den hohen Grundstückspreisen, an zersiedelten Landschaften, an der überlasteten Infrastruktur, an einer zugebauten Schweiz. Vor allem leiden sie an den überfüllten Zügen, die an den Stammtischen sinnbildlich für die Debatte stehen. Und sie machen Zuwanderer dafür mitverantwortlich. Laut dem Sorgenbarometer der Credit Suisse nennen 37 Prozent der Befragten Probleme mit Ausländern als eine ihrer Hauptsorgen.

Gekommen, geblieben

In der gut acht Millionen Einwohner zählenden Schweiz sind 23 Prozent Ausländer. In Österreich sind es im Verhältnis weniger als halb so viele. Jährlich strömen netto 80.000 ausländische Arbeitskräfte in die Schweiz, drei Viertel davon aus dem EU-Raum. Und oft sind sie gekommen, um zu bleiben – vor allem Italiener und Deutsche. Durch die Personenfreizügigkeit können sie kommen, wenn sie Arbeit haben.

Eidgenossen im "Dichtestress"
Doch die Schweizer Seele pocht auf die Eigenständigkeit; in regelmäßigen Umfragen wird bestätigt, wie sehr die Eidgenossen an Werten wie Autonomie und Freiheit hängen. Am europäischen Wesen mag die Schweiz nicht genesen. „Ja, das Selbstbestimmungsrecht, das uns so wichtig ist, spielt auch bei der Abstimmung eine Rolle“, sagt Meret Baumann, Wien-Korrespondentin der SchweizerNZZ. „Durch die Personenfreizügigkeit haben viele Leute das Gefühl, die Schweiz könne nicht mehr selbst über den Zuzug bestimmen.“ Die geltenden Regelungen mit der EU seien aber vorteilhaft für beide Seiten. Man wolle sich nicht einigeln, aber die Selbstständigkeit behalten. Baumann: „Darüber ist man vor allem im Zuge der Schuldenkrise froh gewesen.“ Die Schweiz als Insel der Seligen.

Doch so unabhängig sind Wilhelm Tells Erben gar nicht mehr – die Globalisierung hat auch Helvetien längst irreversibel vernetzt – vor allem mit der EU. Die Union ist für die Schweiz der wichtigste Handelspartner: Etwa 80 Prozent der Importe stammen aus der EU, im Austausch für etwa 60 Prozent der Exporte. Alleine die Schweiz hat rund 120 Abkommen mit der EU geschlossen, weitere sind in Planung.

Offene Grenzen

Der Dachverband der Schweizer Wirtschaft gab Millionen aus, um die Landsleute vom Wohle der Zuwanderung und offener Grenzen zu überzeugen: Migranten, die durch das offene System kämen, seien Westeuropäer mit abgeschlossener Ausbildung – also keine Last, sondern ein Segen für die Sozialwerke. Zusätzlich schaltete sich noch Ex-Außenministerin Micheline Calmy-Rey in die Debatte ein: Sie plädiert sogar für einen EU-Beitritt – ein immer wiederkehrendes und immer abgelehntes Thema in der dichten Schweiz.

Direkte Demokratie
Stimmvolk: Nicht nur das Parlament vertritt in der Schweiz das Volk, die Wähler nehmen an Entscheidungsprozessen auf allen Staatsebenen (Gemeinde, Kanton, Bund) teil. Im Schnitt werden die Schweizer drei bis vier Mal im Jahr befragt. Jede Änderung der Schweizer Verfassung muss durch eine Mehrheit des Volkes und der Kantone („Volksmehr“ und „Ständemehr“) abgenickt werden.
Instrumente: Vor allem sind aber Referendum und Volksinitiative die Gründe für die Vielzahl an Abstimmungen. Bürger haben das Recht, über Parlamentsbeschlüsse nachträglich abstimmen zu können. Per Initiative können die Schweizer verlangen, dass die Verfassung geändert wird. Bereits 2000 gab es eine Volksinitiative „für eine Regelung der Zuwanderung“ – sie blieb damals erfolglos.

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