Ukraine: Ein Land im freien Fall

Ukraine: Ein Land im freien Fall
Der Alltag nach dem Umsturz: Nächstenhilfe, wo es geht - das Misstrauen gegen die da oben ist weiter enorm.

Da ist vor allem eines, was Ukrainer im Osten des Landes, im Westen, Norden und Süden verbindet – ein kleinster gemeinsamer Nenner in Zeiten gegenseitigen Misstrauens: Politik und die politische Elite, Regierung und staatliche Institutionen, von Bezirksbehörden bis zur Exekutive, werden bestenfalls missachtet, wenn nicht gehasst.

Die Ministerliste der neuen Regierung war kaum publik, da war überall schon von einem korrupten Kabinett die Rede, das keine lange Lebenszeit haben werde. An Alltagskorruption in Polizei oder Verwaltung hat sich ohnehin nie etwas geändert. Straßenpolizisten tragen unverändert den Beinamen "Straßenräuber", bewaffnet mit Laserpistolen. Sie ziehen es vor, Mandate ohne Beleg zu kassieren. Wer einen solchen will, dem wird erklärt, dass das eine sehr lange Prozedur und viel teurer sei. Wer gleich schwarz zahlt, bekommt je nach Laune des Organs noch einen Tipp: "Wo fahren Sie hin? Auch dort stehen sie, genau hinter dieser Kurve" – stehen "sie", nicht "wir" wohlgemerkt.

Knapp ein Jahr nach Beginn der Revolution und dem anschließenden Sturz der Regierung, dem Beginn des Krieges im Osten und angesichts der russischen Sanktionen gegen Kiew hat sich im Leben der Menschen wenig zum Besseren gewendet.

"Seht, wir haben Licht, wir sind ein zivilisiertes Land", sagt ein Mann in einem Dorf in der Westukraine durchaus scherzhaft. Aber: Weil die eigenen Minen den Bedarf an Kohle bei weitem nicht decken können, die Minen im Donbass jetzt an Russland liefern, so sie noch geöffnet sind, Russland aber den Export an die Ukraine eingestellt hat, wird in manchen Landesteilen jetzt immer wieder der Strom abgeschaltet.

Keine Gehälter

Hinzu kommen Migrationsbewegungen im Land, die Schulen, Spitäler und den Wohnungsmarkt vor riesige Veränderungen stellen. Der Staat ist de facto bankrott, in Staatsbetrieben und an Beamte wurden zum Teil seit drei Monaten keine Gehälter mehr ausbezahlt. Die Folge: Es wird die Hand aufgehalten, wo es nur geht.

Es ist vor allem aber auch die Landeswährung Griwna, die für viele zur Falle wird. Sie befindet sich im freien Fall, hat gegenüber Euro und Dollar heute nur noch rund die Hälfte des Wertes von vor einem Jahr. Das ist gut für jene, die ihre Löhne in Dollar oder Euro ausgezahlt bekommen, eine kleine Mittel- und noch kleinere Oberschicht. Das treibt aber auch die Preise. Und für die breite Masse, die in Griwna bezahlt wird, sowie Pensionisten ist der Währungsverfall absolut fatal.

Die Ukraine war nie reich, allenfalls an Problemen. "Zu wenig zum Leben, zu viel zum Verhungern" galt für eine breite Masse. Jetzt aber wird die Krise vielerorts existenzbedrohend – überschattet vom Krieg im Osten.

Die Revolution aber, das tief sitzende Misstrauen in Staat und politische Eliten haben parallele Strukturen wachsen lassen, quer durch den Staat. Neben der regulären Armee gibt es Freiwilligen-Bataillone, die von Freiwilligen versorgt werden und abgesehen von schwerem Gerät weitaus besser ausgerüstet und motiviert sind als die Armee. Die Kämpfer dieser Einheiten trinken keinen Tropfen. An Kontrollposten der regulären Streitkräfte bläst einem dagegen mitunter ein sehr promillegesättigter Hauch entgegen. Bei den regulären Streitkräften fehlt es an winterfesten Schuhen, Nahrung, Treibstoff, Munition. Freiwillige liefern auch an die Armee.

Selbstversorger

Und dann gibt es Gruppen, die sich um die Versorgung Kranker und Verwundeter kümmern, Geld für deren Behandlung aufstellen. Es sind oft Dörfer, die zusammenrücken, um ihren Burschen an der Front Schutzkleidung zu besorgen.

Dass Freiwillige an allen Ecken und Enden staatliche Aufgaben übernehmen, stärkt die Gemeinschaft, schwächt aber die Regierung in Kiew. Diese wird als unnotwendiges Übel betrachtet, eher als Hindernis als als Rückgrat des Staates. Und dass Freiwillige aus der Westukraine ebenso wie in den Osten entsandte Polizeieinheiten aus dem Westen im Kriegsgebiet nur mit überklebten Autokennzeichen fahren, sagt viel auch über die gegenseitigen Vorbehalte innerhalb des Landes.

Im Osten ist nach Jahren des Trommelfeuers russischer TV-Sender wenig geblieben von einem ukrainischen Selbstverständnis als in sich geschlossener Staat. Die breite Masse im Osten sagt: "Es ist egal, wer unsere Gehälter zahlt, solange sie nur gezahlt werden, die Wohnungen warm sind im Winter und solange wir nur in Ruhe gelassen werden."

Hat eine kritische Masse aktiver Menschen in Kiew im vergangenen Winter eine Regierung zu Fall gebracht, so ist es jetzt das Misstrauen in den Staat sowie Resignation, die für die Entscheidungsträger in Kiew zur größten Gefahr zu werden drohen – vor allem im Osten, aber ebenso im Westen der Ukraine.

KURIER-Reportage-Reise

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