"Rechtsstaat in Grundfesten erschüttert"

Präsident der Wr. Rechtanwaltskammer Michael Enzinger (l.) mit Clemens Lahner
Wiener Anwaltskammer: Türkische AKP-Regierung missbrauche Justiz, um Gegner auszuschalten.

Die Wiener Rechtsanwaltskammer (RAK) erhebt schwerste Vorwürfe gegen die politische Führung in Ankara. Es "verdichtet sich der Eindruck, dass die AKP-Regierung die Justiz dazu missbraucht, um gegen jegliche Kritik vorzugehen", betonte Clemens Lahner bei einem Pressegespräch gestern.Der Advokat weiß, wovon er spricht: Im Jänner war er auf einer Fact-Finding-Mission in Diyarbakir, der Hochburg der türkischen Kurden, wo das Militär wie in anderen Städten der Region gegen PKK-Sympathisanten vorging und massive Zerstörungen anrichtete. Auch Prozesse gegen Anwälte hat Lahner beobachtet. Sein Resümee: "Der Rechtsstaat in seinen Grundfesten wird erschüttert."

Er berichtet von Schauprozessen, Drohungen mit Strafen bis zu 22 Jahren und einer Behinderung der anwaltlichen Tätigkeit. Dies alles auf Basis der umstrittenen Anti-Terror-Gesetze, die positive Äußerungen für kurdische Angelegenheiten oder die PKK unter Strafe stellen.

Anwalt erschossen

In diesem Klima wurde im November 2015 der Präsident der Rechtsanwaltskammer von Diyarbakir, Tahir Elcis, erschossen (der Fall ist bis heute nicht aufgeklärt). "Das war für mich der Anlass, aktiv zu werden", so Michael Enzinger, Präsident der Wiener RAK.

Im Besonderen verfolgen die beiden die Schicksale von 58 angeklagten Kollegen, die (kurdische) Aktivisten verteidigt hatten. "Ich konnte mir nicht vorstellen, dass man in der Türkei vor Gericht kommt, nur weil man als Anwalt seinen Job macht", betonte Lahner. Doch es sei noch dicker gekommen: Mittlerweile stünden Prozessen gegen jene Anwälte an, die angeklagte Anwälte vertreten. Am 22. Juni sollen Verfahren in Istanbul eröffnet werden. Und dem Präsident einer Advokaten-Vereinigung sei sogar vorgeworfen worden, Chef einer Terror-Organisation zu sein. Enzinger: Werden Anwälte "drangsaliert und kriminalisiert, ist Feuer am Dach."

Vergleich mit Nazi-Zeit

Er zieht einen drastischen Vergleich. Auch in der Nazi-Zeit zwischen 1938 und 1945 seien "unter dem Deckmantel des Rechts politische Kampagnen umgesetzt worden".

Im Hinblick auf die EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei sagte der Wiener RAK-Präsident: Das Fehlen eines fairen Prozess-Verfahrens sei ein "absolutes Beitrittshindernis".

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