Rabbi Goldschmidt: "Muslime sind unsere Verbündeten"

Pinchas Goldschmidt, der Oberrabbiner von Moskau
Der Präsident der Europäischen Rabbinerkonferenz über Rechtspopulismus.

Die Europäische Rabbinerkonferenz debattiert alle sechs Monate aktuelle Themen. Diese Woche tagten die Rabbis in Wien. Auch zu Ehren Paul Chaim Eisenbergs, der als Oberrabbiner von Wien abtritt, aber Oberrabbiner Österreichs bleibt. Dazu weiß Pinchas Goldschmidt, Oberrabbiner von Moskau und Vorsitzender der Konferenz, einen Witz: "Was ist der Unterschied zwischen Engländern und Juden? Engländer verlassen Partys, ohne auf Wiedersehen zu sagen; Juden sagen auf Wiedersehen und gehen nicht."

KURIER: Herr Goldschmidt, wie hat sich die Lage für jüdische Bürger in Europa in den letzten 30 Jahren verändert? Goldschmidt:

Pinchas Goldschmidt: Nach zwei Jahrzehnten, die nahe dem Goldenen Zeitalter für Juden in Europa waren, hat sich die Lage definitiv verschlechtert. Es gibt Länder, aus denen es einen wahren Exodus jüdischer Bevölkerung gibt, wie Frankreich und Belgien ...

Haben Sie da Zahlen?

15.000 haben in den vergangenen zwei Jahren Frankreich infolge des Terrors in Richtung Israel verlassen. Aber wir sind nicht das einzige Ziel des Terrors. Vor drei Jahren war unser Konferenzthema: Gibt es eine Zukunft für Juden in Europa? Heute müsste es heißen: Gibt es eine Zukunft für Europa?

Registrieren Sie einen steigenden Antisemitismus in Europa?

Der Terror passiert ja nicht im Vakuum. Schauen Sie auf die sozialen Medien und den Hass, der dort verbreitet wird. Antisemitismus gab es immer und wird es immer geben. Entscheidend ist, ob Regierungen den politischen Willen haben, ihn zu bekämpfen.

Die haben viel damit zu tun, den Terror zu bekämpfen.

Und da fragt sich, ob sie die Möglichkeiten dazu haben. EU-Europa ist ein Superstaat ohne Grenzen, in dem manche Entscheidungen in Brüssel, manche in den Hauptstädten fallen. Just die Sicherheit ist Angelegenheit der einzelnen Staaten, obwohl es keine Grenzen gibt. Wenn ein Terrorverdächtiger in Brüssel verhaftet wird, braucht es Wochen, bis er nach Paris ausgeliefert wird. Das ist absurd! Ein grenzenloses Europa ohne ein gemeinsames Sicherheitssystem, das ist wie halb schwanger sein. Und das ist einer der Gründe, warum rechtspopulistische und rechtsextreme Parteien Zulauf bekommen. Die sagen: Wir versprechen euch Sicherheit, wir ziehen die Grenzen wieder hoch.

Hat die Migration von Muslimen nach Europa Folgen für die jüdische Gemeinschaft?

Das ist eine der größten Herausforderungen für Europa, nicht nur für die jüdische Gemeinschaft – die lebt genauso wie der Rest der Europäer. Die Bewältigung geht nur über Integration. Denn so etwas wie in den Vorstädten von Paris erzeugt ein Vakuum, dort entstehen Zeitbomben. Wenn Europa bereit ist, Flüchtlinge aufzunehmen, was ein moralische und eine finanzielle Frage ist, dann muss es die Flüchtlinge auch integrieren.

Wie besorgt macht Sie der erwähnte Aufstieg der rechtspopulistischen Parteien in Europa?

Marine Le Pen will Frankreich aus der EU führen – wird es danach eine Europäische Union geben? Und wie überlebt Europa ohne EU? Gehen wir zurück zum Zweiten Weltkrieg, zum Ersten, zum 30-jährigen Krieg?

Was heißt das Erstarken der Rechtspopulisten für die jüdische Bevölkerung?

Das ist paradox: Es stärkt das Gefühl der Unsicherheit. Und gleichzeitig gewinnen diese Parteien auch viele jüdische Wähler. Hier in Österreich auch. Die Parteien sagen: Schaut, wir schützen euch vor den Islamisten. Und sie präsentieren sich als Philosemiten: Marine Le Pen wirft ihren Vater wegen Nazi-Sagern aus der Partei, Heinz-Christian Strache besucht Israel. Für Leute mit einem guten Gedächtnis ist es sehr schwierig, sich mit diesen Leuten zusammenzusetzen, aber viele von uns haben so große Angst vor der islamistischen Gefahr, dass sie das tun und sie sogar wählen.

Kann sich eine Partei wie die FPÖ nicht auch ändern?

Ja, Parteien, Politiker können sich ändern. Aber wenn die selbe Art von Politik, die uns Juden gegenüber betrieben wurde, jetzt gegen jemanden anderen betrieben wird, nämlich gegen die Muslime, dann fragt man sich: Hallo, und wann ändert die Partei ihre Politik wieder? Ganz abgesehen von der Simplifizierung: "Der" Islam, "die" Muslime – es geht nicht um die Muslime, die in Europa leben, studieren, arbeiten wollen und mit denen wir keine Probleme haben, das sind unsere Verbündeten ...

Verbündete?

... gegen den radikalen Islamismus. Würden die Rechtspopulisten gegen den aufstehen und nicht gegen die Muslime, wäre das ein Schritt zu mehr Glaubwürdigkeit.

In Österreich war der Präsidentschaftskandidat der FPÖ für 50 Prozent glaubwürdig.

Das zeigt, wie sehr die Bevölkerung Angst um ihre Sicherheit und Zukunft hat. Wie gesagt: Auch ein Teil der jüdischen Gemeinde in Österreich hat für ihn gestimmt.

Wir reden immer über Antisemitismus in Europa – wie sieht es denn in Russland aus?

Eine der positiven Seiten des Putin-Regimes ist die totale Unterbindung von Antisemitismus – Putin lässt das einfach nicht zu. Daher ist es leichter, mit einer Kippa durch Moskau als durch Paris zu gehen.

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