Premier Letta gegen Sparzwang

epa03680039 Italy's new Prime Minister Enrico Letta arrives at Palazzo Chigi, in Rome, Italy, 28 April 2013. Italy's new grand coalition government was sworn in on 28 April, ahead of parliamentary votes of confidence next week that will formally bring to an end weeks of political stalemate in the eurozone's third-largest economy. EPA/ETTORE FERRARI
Angesichts der Rezession wollen Italien und Frankreich Wirtschaftsimpulse setzen und nicht mehr einem strikten Sparkurs verpflichtet sein.

Der aufsehenerregende Aggressionsakt eines verzweifelten arbeitslosen Italieners rückte die dramatische wirtschaftliche und soziale Lage im Land mit Gewalt in den Mittelpunkt. Nur mit einem unermüdlichen Einsatz gegen „den Albtraum Arbeitslosigkeit“ könne Italien die Familien aus der Krise retten, sagte Premier Enrico Letta in seiner Antrittsrede am Montag im Parlament, bevor er die Vertrauensfrage stellte.

Der Kampf gegen die Arbeitslosigkeit und eine stärkere soziale Abfederung hätten Vorrang, betonte der 46-Jährige in seiner 45-minütigen Ansprache. Die Italiener warten auf klare Signale gegen die hohe Arbeitslosigkeit, für mehr sozialen Zusammenhalt und bessere Zukunftsperspektiven für junge Leute. Unternehmer, die Jugendliche beschäftigen, erhalten Steuerentlastungen.

Letta versprach generell eine Senkung des Steuerdrucks – ohne dass dies zu einer weiteren Neuverschuldung führe. Er stellte eine Reform der bei den Bürgern so verhassten Immobiliensteuer auf Erstwohnungen in Aussicht – eine Hauptforderung von Silvio Berlusconi. Die Einhebung dieser Steuer im Juni wird ausgesetzt.

Einladung nach Berlin

Bereits zuvor hatte Letta in Europa einen Schwenk weg vom Sparkurs hin zu mehr Wachstum und Investitionen gefordert. Kanzlerin Merkel, strikteste Verfechterin des Sparkurses in der EU, reagierte prompt: Sie lud Letta schon für Dienstag nach Berlin ein, um über europapolitische Fragen zu reden.

Die Hoffnung auf einen Neustart zeigte sich jedenfalls am Montag auf den Märkten: Italien konnte sich so günstig wie schon lange nicht frisches Kapital besorgen. Die Schuldenlast Italiens dürfte heuer mehr als 130 Prozent des BIP betragen. Der IWF hat Italien ein Schrumpfen der Wirtschaft um 1,5 Prozent prognostiziert. Der neue Finanz- und Wirtschaftsminister Fabrizio Saccomanni kündigte einen nationalen „Pakt“ zur Wiederherstellung des Vertrauens in Italiens Wirtschaft an.

Große Koalition

Letta sieht die große Koalition aus der moderaten, linken Demokratischen Partei, Berlusconis Mitte-rechts-Partei PdL und Montis Zentrumsblock als letzte Chance für das wirtschaftlich schwer angeschlagene Land. Es ist das erste Mal seit 1994 – seit Berlusconis Einstieg in die Politik –, dass das Mitte-rechts-Lager mit den Linken regiert.

Die Regierung muss sich dringend um die Kurzarbeiter-Geldkasse kümmern, der spätestens im Juni das Geld ausgeht. Gewerkschaftschefin Susanna Camusso schlägt Alarm: „Aufgrund der vielen Unternehmensschließungen stehen bald 500.000 Arbeitnehmer ohne finanzielle Unterstützung da.“ Laut Camussa werden von der Regierung 1,5 Milliarden Euro Arbeitslosengeld benötigt.

Die Arbeitslosenzahl hat sich laut einer Istat-Studie in den vergangenen fünf Jahren verdoppelt. 2012 waren 2,7 Millionen Italiener arbeitslos. In Süditalien ist bereits jeder zweite Jugendliche arbeitslos. Acht Millionen Italiener, die mit weniger als der Hälfte des Durchschnittslohns auskommen müssen, sind armutsgefährdet.

Alarmierend hoch ist die Zahl der Selbstmorde unter Leuten, die ihre Arbeit verloren haben. Täglich nehmen sich ein bis zwei Opfer der Wirtschaftskrise das Leben, quer durch alle Gesellschaftsschichten, von Arbeitern, Angestellten, Selbstständigen bis Unternehmern. Die tragischen Schicksale – erst kürzlich erhängte sich ein Pensionisten-Ehepaar in Mittelitalien, das von 250 Euro Rente lebte – werden meist nur als Randnotiz erwähnt. „Die Regierung muss dringend was auf die Beine stellen, denn sonst schreiten immer mehr Leute von Worten zu Taten, wie wir bereits am Sonntag gesehen haben“, sagt ein Unternehmer aus Norditalien.

Der vorläufig Letzte ist EU-Sozialkommissar Lazlo Andor: Er forderte von der „deutschen Regierung einen radikalen Kurswechsel, weil Sparen allein noch kein Wachstum bringt“. Dazu brauche es Investitionen und Nachfrage, so Andor.

Er stellte sich damit auf Linie mit EU-Kommissionschef Jose Manuel Barroso, der vor einer Woche schon das Ende der „Austeritäts-Politik“ verlangt hatte. Der einst als Premierminister Portugals für dessen Schuldenwachstum mitverantwortliche Konservative hatte nur den Adressaten noch nicht so klar genannt: Kanzlerin Merkel.

Die nahm es bisher als Ausdruck der von ihr hoch geschätzten Meinungsfreiheit hin, von Oppositionsparteien und Reformen fürchtenden Lobbygruppen als „Diktatorin eines ungerechten“ Sparkurses beschimpft zu werden – bis hin zu ihren Bildern mit Hitlerbart. Dass das Thema Sparstopp nun auch von Regierungschefs und deren Parteien kommt, macht im Kanzleramt in Berlin aber nun doch Sorgen.

Vor allem der bisher engste Verbündete Frankreich. Am Samstag machte die FAZ auf mit einem in der Partei von Präsident François Hollande auf Konsens stoßenden Antrag „zum Kampf gegen die egoistische Unnachgiebigkeit von Merkel“. Sie habe „ausschließlich das Interesse der deutschen Sparer, des Handelsbilanzüberschusses und der eigenen Zukunft“ im Sinn und erhebe „Austerität zum Maßstab der EU-Binnenbeziehungen“, so die Partei des Präsidenten. Ihre Aufgabe sei es laut Antrag, „Hollande beim Armdrücken mit Merkel zu stärken“.

Konfrontation

In dem aus der Parteiführung kommenden Antrag musste am Montag – wohl auf Intervention des Präsidenten – die persönliche Schmähung Merkels entfernt werden. Doch in Berlin sieht man mit wachsender Sorge, dass Hollande auch ein Jahr nach seiner Wahl keine Reformen vorlegt und lieber die zaghafte Pensionsreform seines Vorgängers Sarkozy revidiert hat. Auch verbal suche er die Konfrontation mit Merkel immer deutlicher.

In Berlin verwunderte auch die Antrittsrede des neuen italienischen Regierungschefs Enrico Letta: Er habe die Rücknahme der Austeritätspolitik zum Kerninhalt gemacht statt der Ankündigung echter Reformen, obwohl jene seines Vorgängers Monti kaum wirkten.

Offiziell gibt es zur jüngsten Welle der Sparverweigerung keine Stellungnahme in Berlin. Selbst das Insistieren von Finanzminister Schäuble in seiner Rede im Bundestag vor dem Beschluss der Zypern-Hilfe letzte Woche ging in hausgemachten Themen wie Frauenquote und prominente Steuerflüchtlinge fast unter. Erst mit der in Umfragen und Talkshows offenbar rasch präsentierten „Alternative für Deutschland“ scheint sich das zu ändern: Ihr Werben für die Auflösung der Euro-Zone könnte Merkel die erhoffte Mehrheit streitig machen. Die Opposition hält ohnehin nichts von ihrem Sparen und Reformieren.

Frankreichs Präsident François Hollande musste einmal mehr einen Fehler eingestehen: Er zog die Ende 2012 eingeführte drastische Erhöhung der Kapitalertragssteuer auf sagenhafte 62 Prozent zurück. 20 Milliarden Euro sollten dadurch zusätzlich in die leeren Staatskassen fließen. Der Sturm der Entrüstung der Wirtschaftstreibenden war enorm, Abwanderungsdrohungen standen im Raum.

Am Montag lud Hollande Unternehmensvertreter in den Elysée-Palast, um die Steuererhöhung zu widerrufen. Der sozialistische Politiker ringt um das Vertrauen der Unternehmer – und er braucht dringend einen Impuls für die angeschlagene Wirtschaft im Land.

„Im Großen und Ganzen soll dies ein starkes Signal sein, dass Frankreich ein guter Ort für Investitionen ist und dass wir unternehmerfreundlich sind“, zitierte Financial Times die Ministerin Fleur Pellerin. So soll die Gesamtsteuerrate für einen Investor, der nach acht Jahren aus einem Startup aussteigt, von derzeit 40 Prozent auf 24 Prozent fallen.

Negativ-Rekord

Frankreich steckt tief in der Rezession, die Arbeitslosigkeit erreichte im März ein Negativ-Rekord-Niveau: Die Zahl der registrierten Arbeitsuchenden stieg im Vorjahresvergleich um 11,5 Prozent: 3,225 Millionen Franzosen suchten Arbeit.

Auch die Banken des Landes haben derart massive Probleme, dass französische Sozialisten schon gefordert haben, dass deutsche Sparer solidarisch für französische Banken geradestehen sollen. Das Verhältnis zwischen Paris und Berlin ist aufgrund der von Deutschland eingeforderten strikten Sparpolitik im Euroraum so schlecht wie schon lange nicht.

Frankreichs Budget-Defizit betrug Ende 2012 zu hohe 4,8 Prozent. Der Rechnungshof verlangt von Präsident Hollande rigoroses Sparen. Entsprechend groß ist der Druck, Einsparungsmaßnahmen zu suchen.

„Gefunden“ wurde nun die französische Armee: Die Regierung streicht 34.000 Arbeitsplätze in den verschiedenen Bereichen des Verteidigungssektors – die ersten 10.000 bis 2015, in den folgenden vier Jahren weitere 24.000 Stellen. Am Montag veröffentlichte die Regierung den Plan.

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