Papst im EU-Parlament: "Europa verliert seine Seele"

Papst Franziskus: Grundsatzrede im EU-Parlament.
Applaus für den Pontifex: Der Heilige Vater hat seine mit Spannung erwartete Rede in Straßburg gehalten.

Selten sieht man den Plenarsaal so voll; noch seltener sieht man so viele Abgeordnete so aufmerksam zuhören. Aber es kommt eben auch nur selten so ein Besuch: 26 Jahre lag es zurück, dass mit Johannes Paul II. zuletzt ein Papst im EU-Parlament sprach. "Seitdem ist die EU gewachsen und die Welt komplexer geworden", sagte Papst Franziskus am Dienstag bei seiner Rede vor den Abgeordneten, "und obwohl die EU größer und stärker geworden ist, macht sie den Eindruck, dass sie alt und ausgezehrt ist und kein Akteur mehr in dieser Welt."

Er wolle den Bürger eine "Botschaft der Hoffnung" bringen, sagte Franziskus, ehe er den Mandataren stellvertretend für Europas Politik ins Gewissen redete. Zentraler Punkt der päpstlichen Rede: Die Würde des Menschen.

"Seuche" Einsamkeit

Im Herzen der Europäischen Idee sei das Vertrauen in den Menschen gestanden, "und zwar nicht als Bürger oder als Wirtschaftssubjekt, sondern als Frauen und Männer, die mit transzendenter Würde ausgestattet sind". Heute würden oft die Grundlagen dafür fehlen: Religions- und Meinungsfreiheit, Nahrung – und Arbeit. "Wir müssen wieder sicherstellen, dass Menschen durch würdevolle Arbeit ihre Familien ernähren können."

Es gebe in Europa eine "große Seuche", sagte der Heilige Vater: Die Einsamkeit. "Sie betrifft die, die keinen Kontakt zu anderen haben; Junge Menschen, die keine Perspektiven haben; die Bettler in unseren Städten; die Migranten, die auf der Suche nach einer besseren Zukunft zu uns kommen."

Franziskus geißelte die "Wegwerfgesellschaft", und dass die Rechte des Einzelnen hochgehalten würden, ohne das Gemeinwohl zu beachten. Kritik gab es auch an Sterbehilfe und Abtreibung: Menschen würden zu "Rädchen in einer Maschine und wenn ein Leben für die Maschine nicht wertvoll ist, dann wird es entsorgt – das betrifft unheilbar Kranke, verlassenen Alte und ungeborene Kinder".

Technokratie statt Ideen

Der Papst warnte, Europa sei "dabei, seine Seele zu verlieren": Die "großen Ideen", auf denen die EU aufbaue, "haben an Anziehungskraft verloren und sind durch die Technokratie der EU-Institutionen ersetzt worden", sagte Franziskus. "Die Stunde ist gekommen, dass wir gemeinsam das Europa aufbauen, das sich nicht nur um die Wirtschaft dreht."

Konkret geißelte der Papst die Flüchtlingspolitik der EU-Staaten: "Wir dürfen nicht hinnehmen, dass das Mittelmeer zu einem großen Friedhof wird", sagte er in Bezug auf die vielen Flüchtlinge, die unter Lebensgefahr per Boot versuchen, nach Europa zu kommen.

Positiv sieht Franziskus eine mögliche EU-Erweiterung durch die Aufnahme der Balkan-Staaten: "Die EU-Mitgliedschaft könnte die Antwort sein auf die Sehnsucht nach Frieden in dieser geplagten Region."

Für seinen klaren Worte erhielt Franziskus großen Applaus und stehende Ovationen von den Abgeordneten.

Empfangen wurde der Papst im EU-Parlament aber nicht nur von Spitzenpolitikern, sondern auch von einer alten Bekannten: Helma Schmidt, 97, war vor 30 Jahren Quartiergeberin und Deutschlehrerin, als Jorge Bergoglio für zwei Monate in Rheinland-Pfalz einen Deutschkurs absolvierte.

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