Reimon im Irak: "Ich könnte dort keinen Tag überleben"

EU-Abgeordneter Reimon war bei den eingeschlossenen jesidischen Flüchtlingen: "Hilfe, sofort!".

Die Erschöpftesten von ihnen reißt nicht einmal mehr das herannahende Knattern des Hubschraubers aus ihrer Apathie. Durstig, von der Sonne verbrannt, todmüde sehen Gruppen von Flüchtlingen im glühend heißen Sindschar-Gebirge, wie die wenigen anderen, die noch bei Kräften sind, auf den Helikopter zustürzen. Er bringt Wasser, Nahrung, Medikamente, Planen. Vorübergehende Rettung für ein paar Dutzend Verzweifelte, während doch Zehntausende Flüchtlinge, die Mehrheit von ihnen Frauen und Kinder, Stunde um Stunde ums Überleben kämpfen.

"Ich könnte hier keinen Tag überleben", schildert der 43-jährige Michel Reimon dem KURIER. Der Grüne EU-Abgeordnete saß im Hubschrauber. Sah, "wie die Menschen auf den kahlen Felsen sitzen. Sie haben nichts. Einfach nichts. Und es herrscht eine unvorstellbare Hitze, an die 45 Grad". Vier Mal hätte der Transport-Helikopter der irakischen Luftwaffe am Sonntag von der Stadt Erbil ins Sindschar-Gebirge fliegen sollen, um Hilfe zu bringen.

Verdurstet

Reimon im Irak: "Ich könnte dort keinen Tag überleben"
APA16665844-2 - 27012014 - MAUERBACH - ÖSTERREICH: ZU APA-TEXT II - EU-Wahl-Listenzweiter Michel Reimon am Montag, 27. Jänner 2014, anl. der Jahresauftaktklausur der Grünen in Mauerbach (Niederösterreich). APA-FOTO: HELMUT FOHRINGER
Doch schon nach dem ersten Mal war Schluss. Es gab kein Kerosin mehr. Einziger Lichtblick: Zumindest auf ihrem Rückflug, bei dem der Burgenländer Reimon und die Hubschrauberbesatzung unter Dauerbeschuss der Dschihadisten der IS ("Islamischer Staat") standen, konnten an die hundert Kinder ausgeflogen werden. Alle haben Durchfall, Infektionen, Verletzungen. Laut UNO sollen während der einwöchigen Belagerung bereits mindestens 40 Kinder verdurstet sein. (Youtube-Video: Hubschrauber-Einsatz zur Versorgung der Jesiden)

Ein ganzes Volk ist auf der Flucht: Für die Fanatiker der IS sind die rund 600.000 im Nordirak lebenden Jesiden "Teufelsanbeter". In Todesangst flohen sie deshalb vor den vorrückenden Fanatikern – oft mit nichts als dem, was sie am Leib trugen.

Die Berichte der Überlebenden auf dem Sindschar sind an Schrecken kaum zu überbieten: Sterbende liegen in den Felsnischen, unvorstellbarer Gestank liegt in der Luft. Eine Schwangere musste zwischen den nackten Felsen, ohne Wasser entbinden. Die Nabelschnur trennten Helfer mit einem Stein durch. Das Baby lebte nur eine halbe Stunde.

Reimon im Irak: "Ich könnte dort keinen Tag überleben"
Nur einen Tag lang war nach dem anhaltenden Bombardement der US-Luftwaffe gegen die Stellungen der IS-Kämpfer ein Fluchtkorridor offen: An die 40.000 Menschen wagten am Wochenende den 20 Kilometer langen Marsch durch die Wüste ins sichere Kurdengebiet. Immer wieder marschierten sie an Leichen und Sterbenden vorbei, erzählten Flüchtlinge."Was hier vor sich geht, ist ein Genozid durch Hitze", empört sich Reimon. Die Dschihadisten der IS wissen: Sie müssen erst gar nicht angreifen, sondern blockieren am Fuß des Gebirgszuges alle Zugänge. Die Zeit erledigt ihre tödliche Arbeit für die religiösen Fanatiker. "Wenn nicht sofort mehr Hilfe kommt", sagt Reimon, sei es nur noch eine Frage von Tagen, ehe ein Massensterben beginne.

Selbst die wiederholten Abwürfe von Hilfspaketen der US- und britischen Luftwaffe bringen kaum Linderung: Wegen des Beschusses müssen die Flugzeuge so hoch fliegen, dass die Pakete samt Wassergalonen oft beim Aufprall zerplatzen.

So groß ist die Verzweiflung der Belagerten, dass sich einige nachts an die Stellungen der Dschihadisten am Fuß des Gebirgszuges heran schlichen um Lebensmittel zu stehlen. Nicht alle kamen zurück.

Bewaffnung

Strategische Planungen, wie den Tausenden Flüchtlingen aus ihrer Todesfalle geholfen werden kann, sind auch in Washington angelaufen. Flugzeuge können allerdings im Sindschar-Gebirge nicht landen, mit Helikoptern sind immer nur kleine Gruppen zu retten.

Unterdessen sollen die kurdischen Peschmerga-Milizen aufgerüstet werden, um sich besser gegen die bis an die Zähne bewaffneten IS-Kämpfer verteidigen zu können. Die USA haben damit begonnen, die Kurden mit Waffen und Munition zu beliefern. Doch bis die kurdischen Truppen auf den nordirakischen Schlachtfeldern gegen die Islamisten eine Wende erkämpft haben, können die Flüchtlinge auf dem Sindschar-Gebirgszug nicht mehr warten. "Die Hilfe muss jetzt kommen", sagt ein im Skype-Gespräch hörbar erschütterter Michel Reimon, "jetzt, sofort!"

Die religiöse Minderheit der Jesiden

Ethnische Kurden

Die – geschätzt – rund 800.000 Jesiden sind von der Volkszugehörigkeit her Kurden. Die Mehrheit von ihnen lebt im Nordirak, weiters in Syrien, der Türkei und dem Iran. Auch nach Deutschland sind etwa 60.000 Jesiden ausgewandert.

Religion

Die Wurzeln des Jesidentums reichen 4000 Jahre zurück, es vereint Elemente altorientalischer Religionen. Im jesidischen Glauben steht der „Engel Pfau“ im Mittelpunkt – radikale Islamisten sehen darin eine „Teufelsanbetung“.

Die USA setzten am Dienstag ihre Luftangriffe gegen die Jihadisten im Nordirak fort. Nach offiziellen Angaben der Streitkräfte griffen Kampfjets mehrere Kontrollposten der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) sowie Fahrzeuge der Extremisten nahe des Sinjar-Gebirges an.

Insgesamt zog das Verteidigungsministerium in Washington nach den mehrtägigen Luftschlägen jedoch eine eher ernüchternde Bilanz. Die IS-Milizen seien noch nicht gestoppt, wohl nicht einmal ernsthaft geschwächt, hieß es. Die Luftangriffe der USA haben nach Einschätzung des Pentagons den Vormarsch der islamistischen Milizen gebremst, aber bisher nicht aufhalten können. Man habe ihr "Tempo verlangsamt", sagte Generalleutnant William Mayville. Doch die IS-Kämpfer seien "weiter darauf aus, größere Gebiete zu gewinnen".

Washington stärkt die Kurden im Nordirak mit Waffenlieferungen für den Kampf gegen die Terrormiliz. Die Lieferungen seien bereits vergangene Woche begonnen worden, sagte die Sprecherin im US-Außenamt, Marie Harf, dem US-Sender CNN.

Tausende brauchen Hilfe

Zudem versorgte das US-Militär zum fünften Mal die Flüchtlinge im Sinjar-Gebirge mit Lebensmitteln und Wasser. In dem Gebirge fanden Zehntausende Flüchtlinge verfolgter Minderheiten Zuflucht. Rund 40.000 Jesiden sind nach ihrer Massenflucht wieder in Sicherheit, etwa 40.000 weitere warten in der Gebirgsregion noch auf ihre Hilfe, wie der Zentralrat der Jesiden in Deutschland mitteilte.

Reimon im Irak: "Ich könnte dort keinen Tag überleben"
Displaced people from the minority Yazidi sect, fleeing violence from forces loyal to the Islamic State in Sinjar town, ride in the trunk of a car as they make their way towards the Syrian border, on the outskirts of Sinjar mountain, near the Syrian border town of Elierbeh of Al-Hasakah Governorate August 10, 2014. Islamic State militants have killed at least 500 members of Iraq's Yazidi ethnic minority during their offensive in the north, Iraq's human rights minister told Reuters on Sunday. The Islamic State, which has declared a caliphate in parts of Iraq and Syria, has prompted tens of thousands of Yazidis and Christians to flee for their lives during their push to within a 30-minute drive of the Kurdish regional capital Arbil. Picture taken August 10, 2014. REUTERS/Rodi Said (IRAQ - Tags: CIVIL UNREST POLITICS CONFLICT SOCIETY)

Neuer Premier mit Rückendeckung

Unterdessen stellte sich US-Präsident Barack hinter die Nominierung von Haidar al-Abadi zum irakischen Regierungschef. Dessen Nominierung sei "ein hoffnungsvoller Schritt", sagte Obama am Montag. Amtsinhaber Nuri al-Maliki, der sich weigert, sein Amt abzugeben, erwähnte Obama dagegen mit keinem Wort. Er forderte alle politischen Fraktionen auf, die anstehenden Fragen friedlich zu lösen und eine rasche geeinte Regierung zu bilden, die alle Volksgruppen berücksichtige.

Dagegen weigert sich Maliki, die Macht abzugeben. Die Entscheidung von Präsident Fuad Masoum, Abadi mit der Regierungsbildung zu beauftragen, sei Verfassungsbruch, sagte Maliki laut der Nachrichtenseite Al-Sumeria in einer TV-Ansprache. Der einzige Kandidat für eine Regierungsbildung sei er selbst. Den USA warf er vor, bei der "Rechtsbeugung" mitzuwirken. Maliki hatte am Sonntagabend Sicherheitskräfte an wichtigen Stellen in Bagdad positionieren lassen, um seinen Machtanspruch zu untermauern.

Staatschef Masoum hatte am Montag den schiitischen Politiker Abadi gegen den Willen Malikis mit der Regierungsbildung beauftragt – und somit den lange schwelenden Machtkampf angeheizt. Maliki und Abadi gehören derselben Partei an.

Reimon im Irak: "Ich könnte dort keinen Tag überleben"
Iraqi Prime Minister Nuri al-Maliki speaks during a news conference after a meeting with speaker of parliament Salim al-Jabouri in Baghdad July 26, 2014. Gunmen in army uniforms have seized a senior local official and prominent member of a Sunni Islamist party from his Baghdad home, police and security officials said on Saturday. It was not clear if Riyadh al-Adhdah, who heads Baghdad's Provincial Council and belongs to the Sunni Islamist Iraqi Islamic Party, had been kidnapped by militiamen, who often wear military outfits, or detained by the authorities. Jabouri, who is also a member of the Iraqi Islamic Party, said at the news conference that the prime minister had a "big role" to play in Adhdah's case. Maliki, who spoke to reporters after Jabouri, did not mention the incident. REUTERS/Stringer (IRAQ - Tags: POLITICS HEADSHOT)
UNO-Generalsekretär Ban Ki Moon begrüßte den Ansatz zur Kabinettsbildung, zeigte sich aber besorgt, dass die Regierungskrise und das Vorrücken der Islamisten den Irak noch weiter in die Krise stürzen könnten. Er rief alle Seiten auf, sich zurückzuhalten und die Verfassung zu respektieren. "Das irakische Volk verdient es, in einem sicheren, blühenden und stabilen Land zu leben - einem, das alle Iraker, gleich welcher Religion und Volkszugehörigkeit, respektiert."

Österreich gibt Geld frei

Der Vormarsch der IS-Miliz beschäftigt am Dienstag auch die EU-Botschafterkonferenz in Brüssel. Österreich hat bereits angekündigt, eine Million aus dem Auslandskatastrophenfonds zur Verfügung zu stellen. Das Geld solle so schnell wie möglich fließen und vor Ort von den Vereinten Nationen verteilt werden, erklärte ein Sprecher des Außenministeriums am Dienstag gegenüber der APA.

Kommentare