Nizza: Die Wut auf Regierung steigt

Trauer in Nizza: Unzählige Menschen kamen zu den Gedenkplätzen an der Promenade des Anglais
Zur Trauer mischen sich immer mehr anti-muslimische Ressentiments und Wut auf Paris.

Tausende sind unterwegs an diesem brütend heißen Sommertag – entlang der Promenade des Anglais: Jogger, Radfahrer, Spaziergänger, Touristen, Trauernde. Ihr Weg wird alle paar Meter unterbrochen, Blumen liegen auf dem Boden, flankiert von Kerzen, mit Steinen befestigte Botschaften auf Papier: "Ihr wolltet nur den Himmel bewundern, jetzt seid ihr auf dem Weg dahin", ist darauf ebenso zu lesen wie das Versprechen, "Euch immer zu lieben". Unter den Blumen auf dem Beton finden sich noch immer die eingetrockneten Blutspuren des größten Massakers, das Nizza seit Ende des Zweiten Weltkrieges erlebt hat.

Zwei Tage hat Keiza gebraucht, bis sie es wagte, hierher zurückzukommen, wo Donnerstag Nacht ein Attentäter 84 Menschen zu Tode gewalzt und mehr als 200 verletzt hatte. "Ich war beim Feuerwerk hier, glücklicherweise weit weg vom weißen Lastwagen", erzählt die junge Frau, "und ich bin nur dankbar, dass ich leben darf. Aber es war mir wichtig, hier an all die vielen Menschen, die vielen Kinder zu denken, die umgekommen sind."

Viele Muslime unter den Opfern

Als sich eine verschleierte Frau in die Betenden und Weinenden einreiht, schlägt die Stimmung um. Missgunst und Wut schlagen ihr entgegen, sie solle bloß wieder gehen, rufen ihr einige Umstehende zu. Die Empörung, dass der 31-jährige Attentäter ein Dschihadist gewesen sein soll, bekommt die Muslimin bitter zu spüren. "Das ist doch gut, dass sie da ist", wirft ein älterer Herr ein, "lasst sie trauern wie jeden anderen auch." Die meisten Anwesenden nicken beipflichtend.

Ohne Unterschied von Alter, Herkunft oder Religion hat der gebürtige Tunesier Mohamed Lahouaiej-Bouhel seine Opfer überrollt, viele Muslime waren darunter. Eine der Ersten, die bei der Fahrt des Todeslenkers unter die Räder kam, war eine streng gläubige, siebenfache Mutter aus Marokko.

Tat war exakt geplant

Noch ist nicht endgültig geklärt: War der Attentäter ein Verrückter oder ein Mann, der sich binnen weniger Tage zum radikalen Islamisten gewandelt hat? Oder beides? Während die Experten noch streiten, steht nur fest: Alles an Lahouaiej-Bouhels terroristischer Amokfahrt war exakt durchgeplant. Eine Woche vor dem 14. Juli soll er sein Konto leer geräumt, sein Auto verkauft und seiner Familie in Tunesien umgerechnet an die 100.000 Euro überwiesen haben. Zudem berichtete einer der sieben nach dem Attentat in Nizza Verhafteten der Polizei, dass sich der junge Chauffeur ganz plötzlich und offensiv zum Islam bekannt habe. Und er soll ein SMS an den nun Inhaftierten geschickt haben mit der Bitte: "Mehr Waffen".

Klar war auch sein Ziel: Möglichst viele Menschen zermalmen. Deswegen donnerte der Fahrer mehrmals von der Straßenspur auf den Geh- und Fahrradweg und zurück – unter seine Räder geriet auch ein voll besetztes Kinderkarussell.

"IS-Soldat"

Ein Täterprofil wie jenes des vermeintlich so gewöhnlichen Kleinkriminellen Mohamed Lahouaiej-Bouhel hat es bisher noch nicht gegeben. Einer, der keine offensichtlichen Verbindungen zur Terrormiliz "Islamischer Staat" (IS) hat – obgleich dieser behauptet, der Attentäter sei ein "IS-Soldat" gewesen. Einer, den während dessen Wahnsinnsfahrt niemand "Allah ist groß" rufen hörte. Einer, der sich von einem Tag zum nächsten zum Massenmörder wandelte. Wie soll man solche tickenden Zeitbomben aufspüren, wie Blutbäder wie jenes in Nizza künftig verhindern?

Die vorläufige Antwort lautet: mit massiver Polizei- und Militärpräsenz. Durch Nizzas Altstadt patrouillieren bis an die Zähne bewaffnete Soldaten in Vierergruppen. An der Promenade marschieren Dutzende Polizisten auf und ab. "Das gibt einem schon das Gefühl von Sicherheit", bestätigt Madame Borouma. Die Badetasche in der Hand, lässt sich die ältere Dame auf dem Weg zum Strand nur ungern aufhalten, gibt aber zu bedenken: "Man kann nicht jedem Verrückten einen Polizisten hinterherschicken."

Das Gefühl, von der Staatsmacht und den Regierenden im fernen Paris allein gelassen worden zu sein, teilt die Pensionistin mit Lokalpolitikern in Nizza. Man habe immer wieder mehr Befugnisse im Vorgehen gegen die radikal-islamischen Kreise im Süden Frankreichs gefordert, empörten sich mehrere konservative Funktionäre nach dem Attentat. In Paris weist man dies scharf zurück, weiß aber auch, ein Attentat wie jenes in Nizza kann nur dem rechten Front National in die Hände spielen.

Le Pen profitiert

FN-Chefin Marine Le Pen holte denn auch schon zum Rundumschlag gegen Regierung und Opposition aus. Allesamt seien sie schuld an der "grauenhaften Bilanz" nach Charlie Hebdo, dem 13. November in Paris und nun Nizza – "250 Tote in 18 Monaten". In Nizza, wo die polternde Rechte zuletzt bereits mehr als ein Viertel der Stimmen gewann, scheinen Wut und Angst nach dem Attentat dem FN mehr Anhänger denn je zuzutreiben.

Selbst unter den Badenden am Strand. "Psst", versucht da eine Frau ihren in Rage geratenen Ehemann zu beruhigen. So wie viele Gespräche dieser Tage dreht sich alles um das Attentat, und so wie viele Diskussionen endet auch diese zwischen den Eheleuten am Strand im Zwist. "Mir ist das egal, soll mich ruhig jeder hören", raunzt der Herr mit typisch südfranzösischer Klangfärbung. "Ich wähle das nächste Mal FN."

Francois Hollande, der über seinen Sprachgebrauch besonders wacht, signalisierte einen radikalen Einschnitt in seinem Anti-Terror-Diskurs: in einer TV-Rede um ein Uhr morgens am vergangenen Freitag, also schon wenige Stunden nach dem Gemetzel von Nizza, hatte der Staatschef erstmals von „islamistischen Terrorismus“ gesprochen. Bisher, auch nach den Anschlägen des Vorjahrs, hatte Hollande immerzu nur „den Terrorismus“ als Feind bezeichnet und den Begriff „Islamismus“ (der für die radikale und politische Auslegung des Islams steht) vermieden, um anti-muslimische Reaktionen nicht weiter anzuheizen.

Diese Rücksichtnahme wurde von seinem härter auftretenden Premier Manuel Valls nicht geteilt. Die konservativen bis rechtsrechte Opposition warf Hollande dieses Tabu als Zeichen seiner Unentschlossenheit vor.

Inzwischen fiel ein weiteres verbales Tabu auf Seiten der SP-Staatsführung. Innenminister Bernard Cazeneuve, der in seiner Wortwahl noch ausgewogener als Hollande erscheint, rief wörtlich „alle patriotischen Franzosen“ dazu auf, sich der sogenannten „operationellen Reserve“ anzuschließen, sofern sie sich dazu imstande sehen. Es handelt sich um eine Hilfstruppe aus pensionierten Gendarmen und freiwillig dienenden Zivilisten. Diese erhalten eine militärische Grundausbildung und können, je nach Eignung, für Verwaltungsaufgaben, Überwachungsaktionen aber auch Kampfeinsätze herangezogen werden.

Markenzeichen von Le Pen

Dass der SP-Innenminister in diesem Zusammenhang an „patriotische Franzosen“ appellierte, mag in Ländern, wo man „die Franzosen“ sowieso und zu Unrecht für besonders nationalistisch hält, nicht weiter erstaunen. Aber in Wirklichkeit war der Begriff „patriotisch“ in den letzten Jahren vor allem ein Markenzeichen der Nationalpopulistin Marine Le Pen, die ja auch den „patriotischen Frühling“ als Leitbegriff für ihre gemeinsame Veranstaltung mit FPÖ-Chef Strache in Vösendorf im Juni vorgegeben hatte.

Die zunehmend „patriotischen“ Aufrufe der SP-Regierungspolitiker sind ein weiterer Versuch, eine neue Balance zwischen der anti-islamistischen Aktion und dem gesellschaftlichen Zusammenhalt des Landes zu finden. Frankreich hat jetzt, nach dem dritten Groß-Anschlag und einem halben Dutzend Einzelmorde durch Dschihadisten seit 2015, fast den Siedepunkt erreicht, ab dem eine gewaltsame Retourkutsche durch rechtsradikale Einzeltäter oder Kleinstgruppen zu befürchten sind (Militante rechtsextreme Gruppen sind in Frankreich besonders schwach und vermochten bisher kaum Straßengewalt auszuüben). Der Chef des französischen Inlandsgeheimdiensts warnte erst kürzlich vor dieser Gefahr aber auch vor Zusammenstößen entlang ethno-religiöser Bruchlinien in urbanen Zonen.

Angebot an junge Muslime

Um das wachsende Gefühl der Hilflosigkeit und auch die Revanchelust abzufangen und zu kanalisieren, setzt die Staatspitze auch auf die oben erwähnte Rekrutierungskampagne für die „operationelle Reserve“. Das zielt auf alle, die nicht mehr tatenlos angesichts des dschihadistischen Terrors verharren wollen, und darunter auch auf Jugendliche aus muslimischen Familien. Diese sind schon jetzt sowohl in dieser Reserve-Truppe als auch in der französischen Berufsarmee stark vertreten. Oft sind es ja reine Zufälle, die darüber entscheiden, ob ein Jugendlicher in einem Brennpunkt-Viertel in den Bann der Dschihadisten gerät oder den Rekrutierungsangeboten der Armee Folge leistet – in einer Armee, in der ein junger Muslim nicht an jenen Aufnahme-Diskriminierungen scheitert, die leider in anderen Sparten noch viel zu oft noch zum Tragen kommen.

Mit einer Schweigeminute hat Frankreich der Opfer des Anschlags von Nizza gedacht. Am Tatort auf dem berühmten Strandboulevard "Promenade des Anglais" der Mittelmeer-Stadt versammelten sich am Montagmittag tausende Menschen. Der zu der Gedenkfeier angereiste Premierminister Manuel Valls wurden von einigen in der Menge ausgebuht, wie der Sender BFMTV berichtete. Feuerwehrleute und Rettungskräfte erhielten dagegen Applaus.

Die Opposition wirft der Regierung Versäumnisse nach den islamistischen Anschlägen des vergangenen Jahres vor. Es sei nicht alles getan worden, was seit dem Anschlag auf das Satiremagazin Charlie Hebdo hätte getan werden müssen, sagte Expräsident Nicolas Sarkozy am Sonntagabend in einem Interview des Fernsehsenders TF1.

Präsident Francois Hollande hielt dagegen und sprach bei einer Sitzung des Sicherheitskabinetts von einer "Verpflichtung zu Würde und Wahrheit". "Eine gewisse Zahl an Akteuren der politischen Klasse hat die Trauerperiode nicht respektiert", kritisierte Innenminister Bernard Cazeneuve, der auf mehrere neue Gesetze und Maßnahmen für den Anti-Terror-Kampf verwies.

Staatstrauer

Im ganzen Land kam das öffentliche Leben am Montagmittag zum Erliegen, die Kirchenglocken läuteten. Hollande hielt im Pariser Innenministerium an der Seite von Vertretern der Sicherheitskräfte inne. Noch bis einschließlich Montag gilt in Frankreich eine dreitägige Staatstrauer.

Ein 31-Jähriger hatte am Donnerstag - dem französischen Nationalfeiertag - einen Lastwagen durch eine Menschenmenge gesteuert und 84 Menschen getötet, bevor er von der Polizei erschossen wurde.

Ermittlungen

Die Ermittler bemühten sich unterdessen weiter, die Hintergründe der mörderischen Lastwagenfahrt aufzuklären. Der 31-jährige Tunesier Mohamed Lahouaiej-Bouhlel war am Donnerstag - dem französischen Nationalfeiertag - auf der Strandpromenade von Nizza mit einem Lastwagen in eine Menschenmenge gerast und hatte 84 Menschen getötet, bevor die Polizei ihn erschoss.

Bisher haben die Behörden noch keinen Nachweis für eventuelle Verbindungen des Attentäters zu Terrororganisationen wie dem "Islamischen Staat" (IS). "Das ist ein Anschlag, zu dem der 'Islamische Staat' sich bekannt hat", sagte Innenminister Cazeneuve dem Radiosender RTL. "Jetzt müssen wir wissen, welche Verbindungen es gibt zwischen demjenigen, der diesen abscheulichen Anschlag begangen hat, und den Terrornetzwerken. Und diese Verbindungen sind bisher von der Untersuchung nicht bewiesen."

Sechs Personen aus dem Umfeld des Angreifers sitzen weiter in Polizeigewahrsam, eine weitere Person wurde nach Angaben aus Justizkreisen wieder freigelassen. Die Pariser Staatsanwaltschaft wollte bei einer Pressekonferenz am späten Montagnachmittag über den Stand der Ermittlungen informieren

Kommentare