Vier Kinder in Gaza durch Luftangriff getötet

Am Donnerstag sollen Israels Waffen nun für sechs Stunden ruhen.

Im Gazastreifen verstärkte Israel zuletzt die Offensive gegen die Hamas: Am Mittwoch bombardierte die Luftwaffe die Wohnhäuser mehrerer Politiker der in Gaza herrschenden islamistischen Bewegung. Auf einem Strand in der Stadt Gaza schlug am Nachmittag ein Geschoss ein: vier Kinder wurden getötet und mehrere weitere verletzt, teilte der palästinensische Rettungsdienst mit. Die Kinder hatten Fußball gespielt, als die Bombe oder Granate auf dem Strand einschlug. Nach Schätzungen der Hilfsorganisation "Save the Children" sind mindestens 25.000 Kinder im Gazastreifen und dem südlichen Israel durch die Angriffe traumatisiert.

Für Donnerstag kündigte Israel aber eine sechsstündige Feuerpause an. Zwischen 10.00 Uhr und 16.00 Uhr Ortszeit soll es nun aus "humanitären" Gründen keine Angriffe auf Ziele in dem Palästinensergebiet mehr geben.

Zahl der Toten steigt

Seit Beginn der israelischen Offensive sind allerdings bereits 214 Menschen gestorben. Mehr als 1.600 Palästinenser wurden verletzt. Auf israelischer Seite kam infolge des Raketenbeschusses ein Zivilist ums Leben. Die Hamas und mit ihr verbündete Milizen setzten ihre Angriffe auf Israel am Mittwoch gleichfalls fort. Nach Angaben der Armee feuerten sie 43 Raketen ab. Die meisten davon wurden vom Abwehrsystem "Eisenkuppel" abgefangen.

Tel Aviv heulten Sirenen

In der Metropole Tel Aviv heulten am Vormittag erneut die Sirenen. In der südlichen Stadt Ashkelon wurde der norwegische Außenminister Borge Brende von einem Raketenangriff überrascht, als er mit seinem israelischen Amtskollegen Avigdor Lieberman in einem Restaurant speiste.

Personenschützer brachten den zu Gesprächen in Israel weilenden norwegischen Politiker und seinen Gastgeber in Sicherheit, meldete ein Reporter des norwegischen Senders NRK.

Menschen sollen Häuser verlassen

Bereits früh am Mittwoch hatten die israelischen Streitkräfte mindestens eine Viertelmillion Menschen im nördlichen Gazastreifen aufgefordert, ihre Häuser zu verlassen. Schon in der Nacht zuvor hatten sie die Wohnhäuser mehrerer Hamas-Führer in dem Palästinensergebiet bombardiert, darunter die Bleibe des Spitzenpolitikers Mahmoud Sahar. Automatisierte Telefonanrufe, Flugblätter und SMS-Kurznachrichten riefen die Palästinenser auf, die Gegenden um Beit Lahia, Sadschaija und Saitun zu verlassen.

Das Hamas-geführte Innenministerium in Gaza warnte die Palästinenser nach Medienberichten jedoch, dem Aufruf Folge zu leisten. Die Nachricht der Israelis solle nur "Chaos und Verwirrung stiften", hieß es demnach in einer Mitteilung. Dennoch hatten bis zum Nachmittag rund 21 000 Menschen in Schulen des Hilfswerks der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge (UNRWA) Schutz gesucht.

Bodentruppen: Weiterhin unklar

Ob Israel Bodentruppen in den Gazastreifen entsenden wird, war unklar. Ministerpräsident Benjamin Netanyahu hatte für Mittwoch eine Intensivierung der Angriffe gegen die radikal-islamische Hamas angekündigt. Eine zuvor von Ägypten vorgeschlagene Waffenruhe hatte am Vortag nur wenigen Stunden gehalten, lediglich Israel hatte sich daran gehalten.

Inmitten des eskalierenden Gaza-Konflikts entließ Netanyahu den stellvertretenden Verteidigungsminister Danny Danon. Anlass war laut einem Bericht der Jerusalem Post die Kritik des Politikers der rechten Regierungspartei Likud an der einseitigen Feuerpause Israels. Danon hatte dies einen "Schlag ins Gesicht" für alle israelischen Bürger genannt.

Vergleich mit Hitler

Wo ist der Unterschied zwischen dieser Mentalität und Hitler?", fragte der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan laut türkischen Presseberichten von Mittwoch. In dem aktuellen Konflikt im Gazastreifen sei die Einstellung israelischer Politiker gegenüber den Palästinensern mit dem Gedankengut der Nationalsozialisten vergleichbar, unterstreicht Erdogan seine Kritik. Erdogan warf Israel bei einer Rede vor Abgeordneten der regierenden AKP "Staatsterror" vor und kritisierte, die Weltgemeinschaft schweige zum Vorgehen Israels. Der Ministerpräsident warf den Vereinten Nationen völliges Versagen in der Gaza-Krise vor. Er selbst spreche als Einziger diese Wahrheiten offen an - deshalb sei er international auch "unbeliebt", sagte Erdogan.

Vor einer Woche hat Allen Sørensen, Korrespondent im Nahen Osten für die dänische Zeitung Kristeligt Dagblad, auf einem Hügel in Israel, nahe des Gazastreifens, folgendes Foto getwittert:

Ein Dutzend Menschen haben sich auf dem Hügel eingefunden. Auf ihren Plastikstühlen sitzend und Popcorn essend, bejubeln sie jeden erfolgreichen Angriff ihres Militärs im Gazastreifen. Wenn eine Rakete einschlägt, wird geklatscht.

In einem Telefon-Interview mit der New York Times sagt der dänische Redakteur, es sei nichts Neues, dass sich Israelis versammeln und ihrem Militär zujubeln. Ähnliche Szenen haben sich bereits im Gaza-Krieg von 2009 zugetragen. Auch, dass Palästinenser auf der anderen Seite der Grenze applaudieren, wenn Raketen der Hamas in Israel niedergehen, sei alltäglich. Sørensen spricht von "dehumanizing the enemy" (dt. Entmenschlichung des Feindes). "Dieser Prozess findet während des Krieges statt", betont der Korrespondent.

In der Nacht am 9. Januar 2009 schläft die Salha Familie in ihrem Haus im Gazastreifen. Unterdessen attackiert Israels Militär ausgesuchte, militante Ziele - von Hamas bewohnte Gebäude zum Beispiel. Um etwa drei Uhr morgens durchbricht eine nicht-explosive Rakete das Dach des Hauses und landet in einem der Zimmer. Was die Familie nicht weiß, die Rakete ist eine Warnung und in nur drei Minuten wird eine weitere, diesmal explosive, Rakete das Gebäude zerstören.

Die Zeit vergeht, die Familie entscheidet, ohne zu wissen was folgt, das Haus zu verlassen. Während der ersten Gruppe die Flucht ins Freie gelingt, erreicht der zweite Teil der Familie Salha bloß das Erdgeschoß. Sechs Familienmitglieder werden beim Angriff getötet.

Vier Kinder in Gaza durch Luftangriff getötet
epa01594444 Palestinians carry the bodies of the Salha family, who were killed in an Israeli missile strike, Gaza City, 09 January 2009. The UN Security Council late 08 January urged Israel and Hamas to immediately end the Gaza conflict, a call that follows 13 days of fighting with more than 800 people dead and thousands wounded. EPA/ALI ALI

Vorwarnsystem

Seit Jahren bedient sich Israel Warnmethoden, um zivilen Opfer zu vermeiden. Mit Telefonanrufen informiert man die Bewohner, sie hätten ein paar Minuten Zeit ihre Sachen einzupacken und das Gebäude schnellstmöglich zu verlassen. Auch im Vorhinein abgeworfene Flugblätter stellen ein adäquates Vorwarnsystem dar.

Bei der Operation "Gegossenes Blei" vom Dezember 2008 bis Jänner 2009 wurde zum ersten Mal ein "roof knock" (Deutsch: Dachklopfer) angewandt. Mithilfe einer nicht-explosiven Rakete, die von einer Drohne auf das Dach des Zielobjektes abgefeuert wird, werden Zivilisten aufgefordert das Haus zu verlassen. Nach drei Minuten wird das Gebäude von Israels Luftwaffe bombardiert.

Operation "Fels in der Brandung"

Fünf Jahre später habe sich weder bei der Taktik noch bei den Konsequenzen etwas geändert, erklärt der israelische Architekt und Schriftsteller Eyal Weizman gegenüber der englischsprachigen Version der Al Jazeera. Mit einem Team von der Universität Goldsmith in London hat er auf Anfrage der Vereinten Nationen (UN) die "roof knock"-Methode untersucht und kommt zum Schluss: die IDF (Israel Defense Forces) hat ein Werkzeug gefunden, das auch Angriffsziele (Gebäude) legitimiert, die von Zivilisten bewohnt werden.

Die juristische Argumentation der IDF? Israel wäre die einzige Armee, die vor Luftan­grif­fen warnt und die den Men­schen die Möglichkeit gibt, noch aus dem Haus zu fliehen. Das bedeute, wenn Zivilisten trotz "roof knock"-Warnung das Gebäude nicht verlassen, können sie als militante Gegner oder Kollateralschäden angesehen werden, so Weizman.

IDF dreht ab

Vergangene Woche veröffentlichte die IDF ein Video, in dem sie die Bewohner eines Zielobjektes zunächst vorwarnen und anschließend auf einen Angriff verzichten. Ein shitstorm folgte und Twitterianer sprachen von Propaganda und Vertuschung wahrer Tatsachen. Israel gibt indes die Schuld der radikalislamischen Hamas, die Palästinenser davor warnt das Haus nach einem "knock roof" zu verlassen.

Zuvor hatte die rechte Knesset-Abgeordnete Ayelet Shaked die palästinensischen Zivilisten als legitime Ziele von Angriffen bezeichnet.

Unter dem Deckmantel

"Auch wenn die Intention der nicht-explosiven Rakete eine Warnung ist", erörtert Weizman, "ist es illegal, das Feuer auf Zivilisten zu eröffnen." Es sei "lächerlich" zu glauben, dass im Chaos des Angriffs, Menschen die Warnung verstehen und "empörend" zu behaupten, dass man dadurch viele Leben rette.

Weizman, der die Attacke an die Salha Familie zurückverfolgt hat, kommt zum Schluss, dass das Haus weder ein militärisches Hauptquartier der Hamas gewesen sei, noch Waffen darin gelagert wurden. Es war, so der Forscher, ein Fehler der IDF, den sie auch später eingestanden. Das ändere aber nichts daran, dass sechs Zivilisten ums Leben kamen.

Keine Warnung

Dass die Anzahl der zivilen Opfer hoch ist und stetig steigt, bestätigt ein Bericht der UN: 77 Prozent der über 200 getöteten Menschen im Gazastreifen sind Zivilisten - viele von ihnen sind Verwandte und Bekannte von Mitgliedern bewaffneter Gruppen, die sich während der Luftangriffe in ihren Häusern aufhalten.

Vor einer Woche wurde der Körper von Hafez Hamad - eingewickelt in einem Leichentuch - nach Beit Hanun gebracht, eine Stadt im Norden des Gazastreifens. Verwandte und Bekannte trauerten um das Mitglied der militanten Gruppe "Islamischer Dschihad in Palästina" und um fünf zivile Opfer, die sich beim israelischen Luftangriff nicht mehr rechtzeitig in Sicherheit bringen konnten.

"Normalerweise feuern sie erst eine Warnrakete ab, damit die Hausbewohner noch fliehen können", erzählt eine Frau, die nicht beim Namen genannt werden will, gegenüber dem britischen Telegraph. "Aber dieses Mal ging alles viel zu schnell. Das ist ein Verbrechen."

Vier Kinder in Gaza durch Luftangriff getötet
Wenn das nicht-explosive Geschoss auf das Dach des Hauses gefeuert wird, müssen die Bewohner innerhalb von drei Minuten das Gebäude evakuieren

Seit dem Beginn der neuen militärischen Konfrontation um den Gaza-Streifen werden Online-Anwendungen, die vor unmittelbaren Raketenangriffen warnen, in Israel massenhaft auf Computern und Mobiltelefonen installiert. Ein halbe Million Nutzer haben inzwischen "Red Alert" auf ihrem Smartphone. Die Warn-Apps haben den Begleiteffekt, den Psycho-Krieg zu verstärken.

Individueller Warnton

"Red Alert" ist in besonders betroffenen Regionen Israels zum alltäglichen Service-Tool geworden, seit der Beschuss aus dem Gazastreifen sprunghaft zunahm. Parallel zu den Sirenen ertönt auf dem Mobiltelefon ein Warnton, den der Besitzer individuell auswählen kann.

Der Nutzer kann kleinräumig festlegen, für welches Gebiet er alarmiert werden will. Aber die meisten Israelis setzen im Auswahlmenü ihr Häkchen bei "Alle Orte".

"Fürchteinflößend"

"Wenn die App wegen eines Alarms hier in Tel Aviv klingelt, bin ich wegen der Sirene ja schon im Treppenhaus und renne in den Schutzraum. Ich habe sie vor allem, um die Lage im ganzen Land besser einzuschätzen. Aber ich weiß nicht, ob ich die App behalte, denn das ist verdammt furchteinflößend", räumt Sophie Tajeb ein, eine 37-jährige Angestellte der Stadtverwaltung in der Großstadt an der Küste.

"Red Alert" soll so auch vermitteln, wie es den Verwandten und Freunden in anderen Orten geht. Aber dadurch fördert sie das subjektive Gefühl, sich im allgemeinen Kriegszustand zu befinden. Dabei haben die hochentwickelte Raketenabwehr und die gut eintrainierte Nutzung von Schutzräumen dazu geführt, dass es auf israelischer Seite bisher nur einen Toten und vier Schwerverletzte gibt.

Schutzmöglichkeiten finden

Sinnvoller ist wohl die Applikation "Secure Spaces" (also "Sichere Orte"), die auf einer interaktiv nutzbaren Google-Karte im Bedarfsfall die jeweils nächstgelegene Schutzmöglichkeit angibt. Das können zum Beispiel kleine Betonkammern sein, die in Israels Süden häufig an Haltebuchten oder in Tiefgaragen platziert wurden.

Ein Renner ist auch die Handy-App "Anti-Kidnap". Seit der Entführung und Erschießung von drei jungen jüdischen Autostoppern im Westjordanland Mitte Juni und der Verschleppung und Ermordung eines 16-jährigen Palästinensers als Vergeltungstat wurde die Anwendung auf 100.000 Mobiltelefonen installiert.

"Der Nutzer muss sich bei uns anmelden. Im Entführungsfall versucht er, schnell und heimlich den Button SOS zu drücken. Via GPS kennen wir seinen Aufenthaltsort und binnen drei Minuten sind Einsatzkräfte unterwegs", versichert der Erfinder Dov Maisel im Gespräch mit der Nachrichtenagentur AFP.

Apps sind in privater Hand

Kritisiert wird in Israel, dass all diese Initiativen privat gestartet werden mussten. Die im Verteidigungsministerium angesiedelte Abteilung für Heimatschutz hatte vor zwei Jahren groß angekündigt, die Sirenen durch ein auf SMS basiertes Alarmsystem zu ergänzen.

Budgetmittel wurden dafür üppig bereitgestellt. Aber das staatliche elektronische Warnprogramm der "Start-up Nation" lässt weiter auch sich warten. Auf Anfrage antwortete eine Sprecherin der Streitkräfte knapp "Da arbeiten wir noch dran."

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