Kiew befürchtet Zerstörung von Beweismaterial

Separatisten bestätigen den Abtransport von Leichen von der Absturzstelle. Putin fordert Zugang für internationale Experten.

Nach dem mutmaßlichen Abschuss des malaysischen Passagierflugzeugs entwickelt sich der Konflikt zwischen der Ukraine und den prorussischen Rebellen im Osten des Landes zum Hauptproblem bei der Untersuchung des Unglücks. International werden die Rufe nach Aufklärung laut und nach Bestrafung der Schuldigen. Noch immer ist nicht bewiesen, dass Flug MH17 abgeschossen wurde, bzw. wer es tat. Inmitten der Trauer und dem Schock erhebt die ukrainische Regierung schwere Vorwürfe gegen die prorussischen Separatisten, die die Absturzstelle kontrollieren. Die Rebellen sollen mit Hilfe Russlands Beweismaterial zum Absturz der Passagiermaschine zerstören wollen. Sie hätten 38 Leichen vom Absturzort weggeschafft, hieß es in einer Regierungserklärung.

Samstagabend bestätigten die Separatisten in der Ostukraine den Abtransport sterblicher Überreste von der Absturzstelle. "Einige Dutzend Leichen", die mitten in der Ortschaft Grabowo gelegen hätten, seien "in Anwesenheit von OSZE-Beobachtern" nach Donezk gebracht worden, sagte der Rebellensprecher Sergej Kawtaradse am Samstag. "Es war aus hygienischen Gründen unmöglich, sie weiter dort liegen zu lassen", sagte Kawtaradse. Die Leichen würden in Donezk ausländischen Experten übergeben.

Unterdessen hat eine OSZE-Expertengruppe erstmals über längere Zeit den Unfallort der am Donnerstag abgestürzten malaysischen Passagiermaschine untersuchen können. "Wir waren drei Stunden lang an der Absturzstelle und konnten uns freier bewegen als gestern", berichtete eine Sprecherin der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) am Samstagabend aus Donezk.

Zuvor hatten sich die Experten über massive Einschränkungen durch bewaffnete Kämpfer der prorussischen Separatisten beschwert.

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NETHERLANDS MALAYSIA AIRLINES PLANE CRASH
Kiew befürchtet Zerstörung von Beweismaterial

A general view shows the site of a Malaysia Airlin
Kiew befürchtet Zerstörung von Beweismaterial

Emergencies Ministry member works at the site of a
Kiew befürchtet Zerstörung von Beweismaterial

Site of a Malaysia Airlines Boeing 777 plane crash
Kiew befürchtet Zerstörung von Beweismaterial

Site of a Malaysia Airlines Boeing 777 plane crash
Kiew befürchtet Zerstörung von Beweismaterial

Armed pro-Russian separatist stands at a site of a
Kiew befürchtet Zerstörung von Beweismaterial

Site of a Malaysia Airlines Boeing 777 plane crash
Kiew befürchtet Zerstörung von Beweismaterial

Emergencies Ministry members walk at at the site o
Kiew befürchtet Zerstörung von Beweismaterial

NETHERLANDS UKRAINE PLANE CRASH

Putin für internationale Experten

Die Separatisten wiesen die Vorwürfe zurück. "Wir haben der OSZE zugesagt, weder die Flugschreiber zu entfernen noch Leichen abzutransportieren", sagte einer der Sprecher der Aufständischen, Sergej Kawtaradse, am Samstag in Donezk. Die Regierung in Kiew setze offenbar auf eine Verzögerungstaktik. "Die internationalen Experten sollen jetzt doch erst an diesem Sonntag zum Wrack kommen. Wertvolle Zeit geht verloren - Zeit, in der Spuren völlig zerstört sein können", kritisierte Kawtaradse. Auch Separatistenanführer Alexander Boradaj sicherte den Experten eine Zusammenarbeit zu. "Die Flugschreiber können zum Beispiel dem Internationalen Roten Kreuz übergeben werden, kein Problem", sagte Borodaj.

Russland kritisierte Berichte über einen angeblichen Abschuss der Maschine als "voreilig". Damit sollten offenbar Ermittler beeinflusst werden, teilte das Außenministerium in Moskau mit. Russlands Präsident Wladimir Putin stimmte allerdings am Samstag in einem Telefonat mit der deutschen Kanzlerin Merkel zu, dass eine Kommission unter Leitung der Internationalen Zivilluftfahrtorganisation (ICAO) "rasch Zugang zur Absturzstelle" erhalten müsse, "um die Umstände zu klären und die Opfer zu bergen".

Kiew befürchtet Zerstörung von Beweismaterial
College students gather around candles forming the shape of an airplane, during a candlelight vigil for victims of the downed Malaysia Airlines Flight MH17, at a university in Yangzhou, Jiangsu province July 19, 2014. Ukraine accused Russia and pro-Moscow rebels on Saturday of destroying evidence of "international crimes" as guerrillas and foreign observers faced off over access to the wreckage of the downed Malaysian airliner. As Kiev raised the stakes by saying it had evidence that a Russian fired the missile widely assumed to have killed all 298 aboard on Thursday, a separatist leader blamed Ukraine for the delay and called on Moscow to help in recovering bodies starting to rot after two days in baking summer heat on the steppe. REUTERS/Stringer (CHINA - Tags: TRANSPORT DISASTER POLITICS EDUCATION TPX IMAGES OF THE DAY) CHINA OUT. NO COMMERCIAL OR EDITORIAL SALES IN CHINA

Die prekäre Lage des ukrainisch-russischen Konflikts öffnet indes Verschwörungstheorien im Internet, immer neuen Spekulationen und Vorwürfen Tür und Tor. Moskau behauptet, Kiew habe das Flugzeug selbst abgeschossen, um die Rebellen und Russland weiter zu diskreditieren. Immerhin habe Kiew in der Ostukraine Flugabwehrraketen stationiert, obwohl die Separatisten gar keine Flugzeuge hätten. Kiew dementiert das und wirft seinerseits Moskau vor, kürzlich Buk-Raketen über die Grenze gebracht zu haben. Mit einer solchen wurde MH 17 wahrscheinlich abgeschossen. Ein Video, das die Washington Post veröffentlichte, soll das Abschussgerät zeigen, als es per Lkw Richtung Grenze geführt wird.

Für den ukrainischen Premier Arseni Jazenjuk ist die Lage jedenfalls klar. Er beschuldigte auf seiner Website „diese Terroristen“, die das Flugzeug abgeschossen hätten und schrieb von einem „Krieg gegen die Welt." Alle roten Linien seien bereits überschritten worden.

186 Leichen geborgen

Am Samstag wurde auch ein Ermittlerteam aus Malaysien in Kiew erwartet. Nach Angaben der Fluglinie Malaysia Airlines sollen insgesamt 62 Ermittler anreisen. Großbritannien hat bereits Spezialisten für Flugzeugabstürze in die Ostukraine geschickt, um bei der Untersuchung der Wrackteile der Passagiermaschine zu helfen. Außerdem sollen britische Polizisten bei der Bergung und Identifizierung der getöteten Passagiere helfen.

Bislang konnten 186 Leichen geborgen werden. Die weiteren Aufräumarbeiten werden erschwert, da die Trümmer in großem Umkreis verstreut sind. Abseits der Entwicklung um den Flugzeugabsturz dauerten die Gefechte in dem Konfliktgebiet an. Bei Kämpfen haben die Regierungstruppen nach eigenen Angaben Teile der Stadt Lugansk wieder unter ihre Kontrolle gebracht.

Insgesamt kamen beim Absturz des Flugzeuges 283 Passagiere und 15 Besatzungsmitglieder ums Leben, darunter 189 Niederländer, 44 Malaysier, 27 Australier, 12 Indonesier, 10 Briten, je vier Belgier und Deutsche, drei Filipinos und je ein Kanadier und Neuseeländer. Österreichische Staatsbürger waren nach Erkenntnissen des Außenministeriums nicht auf dem Flug eingecheckt.

Es stehen viele Fragenzeichen hinter dem Abschuss in der Ostukraine. Zu viele, um letztgültig zu sagen, wer, womit und warum geschossen hat. Und man wird es vermutlich nie exakt erfahren. Fakt ist aber: 298 völlig unbeteiligte Menschen sind tot – Malaysier, Deutsche, Australier, Niederländer. Und eingetreten ist der vorhersehbare Modus der vergangenen Wochen: Kiew beschuldigt pro-russische Separatisten; Moskau sowie die pro-russischen Separatisten beschuldigen wiederum die Ukraine. Und im Westen Europas rauchen ohnehin seit Ewigkeiten die Köpfe, wie mit der Situation in der Ostukraine generell verfahren werden soll, ohne zu einem Schluss zu kommen. Als wolle man die Antwort auf die Frage, was denn da vor sich geht, nicht wahrhaben. Und die lautet: Es ist Krieg – das ist keine interne Krise, kein Aufstand oder sonst etwas.

Ein Krieg ist ein Krieg, auch wenn er nicht erklärt wurde; auch wenn ihn Saboteure ohne Kennung und Hoheitsabzeichen führen; auch wenn es großteils eine bezahlte Soldateska ist, die mit schwerem Gerät hantiert und nicht reguläre Truppen – Wallenstein lässt grüßen. Und all das zumindest mit Duldung Russlands.

Formlos

Dieser Krieg wird einfach nur geführt. Zynisch, ganz ohne lästige diplomatische Formalitäten und Umgangsformen. Und genau das macht ihn so schauerlich – weil es ihn nach internationalem Regelwerk nicht gibt. Und da ist noch etwas: Letztlich ist es ein Krieg gegen ein assoziiertes Mitglied der EU, der da geführt wird. Daran ändert keine Schreckstarre etwas. Und auch keine Sonnenschein- oder Realitätsverweigerungspolitik europäischer und vor allem auch österreichischer Staatenlenker, die inmitten dieses Schlamassels Felle retten wollen und Pipeline-Deals unterzeichnen oder Rüstungsverträge bekräftigen – um "Gesprächskanäle" offenzuhalten.

Russland hat eingestanden, auf der Krim sein Militär eingesetzt und so Territorium annektiert zu haben – etwas, das seit dem Zweiten Weltkrieg in Europa in dieser Form nicht vorgekommen ist. Allen Mahnungen aus Europa oder den USA zum Trotz ist Russland bisher ohne echt schmerzhafte Folgen davongekommen.

Und in der Ostukraine? Es rollen Kampfpanzer und Kriegsgerät nahezu tagtäglich in kilometerlangen Konvois über die Grenze. Und diese – nach den Worten Russlands – Volksmilizen sollen keine Verbindung zum offiziellen Russland unterhalten? Wenn dem so sein sollte, steht Russland vor dem Ende. Es gibt Satellitenbilder, es gibt Technologie, die jede Verbindung mit dem Internet registriert oder jedes Telefonat – was braucht es, um Europa wachzurütteln? Eine Kriegserklärung?

Der Abschuss eines Zivil-Jets ist inmitten dieser Tragödie leider nicht mehr als ein tragischer Zwischenfall, der heraussticht aus dem Wahnsinn eines Krieges, den wir offenbar nicht wahrhaben wollen. Vielleicht aber wird er zum Anlass, dass Brüssel – und auch die hiesigen Volksvertreter – endlich eine klare Sprache finden.

Kiew befürchtet Zerstörung von Beweismaterial

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