Maurer: "Totalitäre Gewalt"

Syrien, Ukraine (Bild) Afghanistan - „Noch nie so viele bewaffnete Akteure gesehen, die ihre Aktionen durch Werte argumentieren.“
Präsident des Internationalen Roten Kreuzes Peter Maurer über humanitäre Hilfe im Angesicht globaler Krisen.

KURIER: Betrachtet man die vergangenen Jahre – vor allem mit Blick auf Syrien, Ukraine, Afghanistan –, entsteht der Eindruck, es wird für Hilfsorganisationen und NGOs immer schwieriger, Zugang zu finden zu gewissen Regionen. Ist das so? Und wieso?

Peter Maurer: Ich glaube, es gibt zwei Seiten der Medaille. Wenn ich sehe, was die humanitäre Gemeinschaft heute leistet, dann machen wir mehr als zu vielen Zeiten in der Vergangenheit. Mehr Leute werden humanitär versorgt, als je zuvor. Aber zugleich stimmt es, dass wir weiße Flecken auf der Welt haben, wo Millionen leben, zu denen wir keinen Zugang haben. In dieser Hinsicht sind wir in einem Paradoxon. Die Diskrepanz zwischen wachsenden Bedürfnissen und der Fähigkeit humanitärer Akteure, diese Bedürfnisse abzudecken, wird größer.

Hinzu kommt, dass wir es mit einer Umstrukturierung von Konflikten zu tun haben – der Atomisierung von Gewalt: Die Tatsache, dass es immer mehr Waffenträger und Organisationen gibt, mit denen wir ein Einverständnis suchen müssen. Das ist eine große Herausforderung. Unsere Philosophie ist immer gewesen, mit allen Parteien in einem Konflikt transparent zu verhandeln, um einen humanitären Raum zu schaffen. Wenn wir zwei Parteien haben, ist das überschaubar. Wenn wir 30, 40, 100 Parteien haben, wird es schwierig. Das gelingt manchmal, aber nicht immer.

Die Art der Konflikte, mit denen wir heute zu tun haben, ist nicht mehr der internationale Konflikt und nicht mehr der traditionelle Befreiungskrieg der 60er oder 70er. Es ist ein chaotischeres Umfeld. Und darin ist es schwieriger, Hilfe zu leisten.

Angesichts dessen – sind die Prinzipien des Roten Kreuzes (Menschlichkeit, Unparteilichkeit, Neutralität, Unabhängigkeit, Freiwilligkeit, Einheit, Universalität) zeitgemäß, oder müssen sie angepasst werden?

Maurer: "Totalitäre Gewalt"
Peter Maurer, president of the International Committee of the Red Cross (ICRC), gestures during an interview with Reuters in Geneva March 13, 2015. The Red Cross has only sporadic access to areas of Iraq and Syria held by Islamic State, despite huge needs of 10 million people living under their control, ICRC President Maurer said on Friday. To match Interview MIDEAST-CRISIS/SYRIA-ICRC Picture taken March 13, 2015. REUTERS/Denis Balibouse (SWITZERLAND - Tags: CONFLICT CIVIL UNREST)
Es liegt in der Natur von Prinzipien, dass sie zeitunabhängig sind – sie repräsentieren immer wiederkehrende Probleme humanitärer Arbeit: Neutralität, Unparteilichkeit, Unabhängigkeit und Humanität sind zentrale Prinzipien, denen wir uns verpflichtet sehen. Aber: Man kann Prinzipien nicht einfach vor sich herbeten, man muss versuchen, sie zu konkretisieren. Und Konkretisierung bedeutet, dass man ihnen im Alltag Gehalt geben muss. Unparteilichkeit muss sich widerspiegeln in humanitärer Arbeit, welche sich an der Priorität der Bedürfnisse orientiert und nicht an der politischen, religiösen oder ethnischen Zugehörigkeit.

Wir leben in einem manipulativen Umfeld, in welchem alle Kriegsparteien versuchen, humanitäre Hilfe zu instrumentalisieren. Wir leben in einem Umfeld starker Politisierung, in welchem humanitäre Hilfe abhängig gemacht wird – teilweise – von politischen Konzessionen. Prinzipien-orientierte humanitäre Arbeit wird dazu führen, dass Spannungen in Konflikten abgebaut und nicht erhöht werden.

Ich bin verhalten optimistisch. Je länger wir an einem Ort sind, desto mehr haben Kriegsparteien Verständnis, und umso stabiler sind die humanitären Räume, in denen wir agieren.

Aber es ist doch immer auch eine Gratwanderung zwischen Unparteilichkeit und dem Umstand, dass man um Werte nicht herumkommt. Stichwort Ukraine. Da gab es auch Rot-Kreuz-intern Konflikte.

Ich denke, Ukraine und ähnliche Situationen illustrieren, wieso es das IKRK (Internationales Rotes Kreuz, Anm.) gibt. Letztlich war es seit der Gründung des IKRK klar, dass in Situationen von Konflikten nationale Gesellschaften nicht immer die Möglichkeit haben, unparteiisch und unabhängig zu sein. Letztlich wäre ja das eigentliche Ziel des IKRK die eigene Abschaffung. Aber die Realität zeigt, dass Gewaltsituationen Gesellschaften spalten. Und auch die humanitäre Gemeinschaft – und dass letztlich nur eine übergeordnete Komponente wirkliche Handlungsmöglichkeit hat.

Sie haben eingangs weiße Flecken auf der Landkarte mit immer mehr Menschen ohne Zugang zu Hilfe erwähnt und die Instrumentalisierung von humanitärer Hilfe durch Konfliktparteien. Würden Sie das als um sich greifenden Menschenrechts-Nihilismus bezeichnen?

Ich weiß nicht, ob das Nihilismus ist. Nein, ich würde das nicht so sehen. Wir sind in einer Zeit außerordentlicher Polarisierung. Wir leben in einer Zeit, in welcher Konflikte und Gewalt totalitäre Ausmaße annehmen. Und der totalitäre Charakter der Gewaltanwendung, die Polarisierung, Politisierung, die kommunikative Ebene, welche so stark ins Bewusstsein gerückt ist mit global verbreiteten Scheußlichkeiten – das sind alles Elemente, die zum totalitären Charakter neuer Kriege gehören.

Dazu gehört, dass sich Regionen und Akteure abschotten. All diese Akteure glauben, ihre Verhaltensweisen seien in Werten begründet. Wir haben noch nie so viele bewaffnete Akteure gesehen, die ihre Aktionen durch Werte argumentieren. Wir haben selten so viel Grausamkeit gesehen im Namen von Werten.

Ich kann mir vorstellen, dass es angesichts dessen als unbewaffneter Akteur umso schwieriger ist, Werte durchzutragen.

Das ist ein zentraler Punkt. Ich glaube, die Bedeutung fundamentaler Prinzipien und humanitärer Prinzipien liegt in ihrer universellen Bedeutung. Es ist nicht so, dass es eigene und fremde Werte gibt in humanitärer Arbeit. Es sind nicht europäische Prinzipien. Oder Prinzipien von entwickelten Ländern. Es sind Prinzipien, die in allen großen Religionen dieser Welt, in allen Gesellschaften gelten. Es gibt keine Gesellschaft, die erlaubt zu foltern; es gibt keine Gesellschaft, die nicht Bestimmungen hat, dass im Krieg zwischen Militärs und Zivilisten unterschieden werden muss; es gibt keine Gesellschaft, die sagt, man müsse Spitäler nicht schützen. Das sind alles universelle Werte.

Es ist wichtig, dass wir uns nicht in eine Diskussion hineinmanövrieren lassen, wo wir glauben, dass es um einen Zivilisationskampf geht zwischen Ost oder West oder Nord oder Süd oder christlich und andere. Um das geht es nicht. Es geht um Prinzipien, deren Bedeutung höhere Anerkennung verdienen.

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