"Zusammenbruch, nicht Revolution"

"Zusammenbruch, nicht Revolution"
Der führende deutsche DDR-Historiker Schröder relativiert wie Helmut Kohl die Rolle der Bürgerrechtler.

KURIER: Wieso blockierte nur die DDR die Liberalisierung im Ostblock, die 1981 begann?

"Zusammenbruch, nicht Revolution"
Klaus Schroeder
Prof. Schröder: Die SED-Machthaber hatten immer panische Angst, von der Bundesrepublik geschluckt zu werden: Wenn sie nur etwas Luft ließen, wäre das Überspringen des Freiheitsvirus nicht mehr kontrollierbar. Nur den DDR-Bürgern stand ja die BRD-Option immer vor Augen. Noch im Sommer 1989 warnte Erich Mielke, Polizeiminister und Chef der Staatssicherheit Stasi: Wenn wir nur etwas nachgeben, droht wieder ein blutiger Aufstand wie am 17. Juni 1953.

Waren die Opferzahlen von 40 Jahren DDR-Diktatur auch deshalb größer als in den anderen sozialistischen Ländern?

Ja. Absolut und auch relativ zur Bevölkerungszahl. Die DDR bestrafte 200.000 bis 250.000 politische Häftlinge, allein an der Westgrenze inklusive Berliner Mauer gab es 1250 bis 1500 Tote. Ihr Unterdrückungsapparat war größer als der jeden anderen Landes.

Und trotzdem stürzte der "Reale Sozialismus": Wegen der Bürgerrechtler – oder weil den Sowjets das Geld ausging, wie Kanzler Kohl später meinte?

Es waren vier nur schwer quantifizierbare Elemente: Gorbatschows Liberalisierungskurs, die anschwellende Massenflucht von DDR-Bürgern, das ökonomische Kollabieren – denn die DDR war pleite – und die Demonstrationen. Die Dissidenten waren nur Katalysator für den Sturz, die meisten von ihnen wollten ja eine reformierte, aber weiter sozialistische DDR. Sie bekamen bei der ersten freien Wahl dann auch nur ein paar Prozent. Kohl hat also recht: Die Rolle der Bürgerrechtler wird überschätzt.

Es ging also nicht nur um Reisefreiheit, wie heute die SED-Erbin, "Die Linke", behauptet?

Ab Oktober 1989 bekamen die vier Elemente eine Eigendynamik. Das Ende der DDR war viel eher ein Zusammenbruch denn eine Revolution. Der Begriff der "Friedlichen Revolution" ist eine geschichtspolitische Konstruktion von Bürgerrechtlern. Auch wenn kein Schuss fiel.

Wo und wann kam der erste Ruf nach Wiedervereinigung?

Die thematisierte im Frühjahr 1989 erstmals ein Berater Gorbatschows, was US-Außenminister James Baker genau registrierte. Nach dem Mauerfall nahm Kohl das Thema sofort auf. Er hatte ja immer, auch gegen Widerstände in seiner CDU, gesagt: "Die deutsche Frage ist offen", und das Thema nie aus dem Blick verloren. Dafür verunglimpfte ihn die Linke gern als "Kalten Krieger": Die SPD war überwiegend gegen die Wiedervereinigung so wie der Großteil der ihr nahe stehenden Medien.

Aber SPD-Alt-Kanzler Willy Brandt war doch immer dafür?

Brandt bezog sein inzwischen legendäres "Jetzt wächst zusammen, was zusammen gehört" auf Europa, nicht auf Deutschland. Nur die SPD münzt es seither erfolgreich auf die Wiedervereinigung um. Brandt und seine SPD-Nachfolger hatten die Bürgerrechtler im Ostblock im Stich gelassen, nur Kohl unterstützte sie aktiv. Und die Grünen und die noch linkere "Außerparlamentarische Opposition" waren total gegen die Wiedervereinigung, sie pfiffen Kohl am West-Berliner Rathaus schon am Tag nach dem Mauerfall brutal aus. Die SPD schwenkte erst im Frühjahr 1990 um, als die neue Ost-SPD Druck machte, die Grünen noch viel später.

Wann kam in der DDR der Ruf nach der Wiedervereinigung?

Am 19. Dezember in Dresden bei Kohls erster Rede im Osten brachen alle Dämme. Viele tausend DDR-Bürger riefen: "Wir sind ein Volk". Obwohl Kohls "schwierigster Auftritt meines Lebens" wohldosiert war und er nur sagte: "Mein Ziel bleibt, wenn die geschichtliche Stunde es zulässt, die Einheit der Nation." Am Heimweg sagte Kohl zu Begleitern: "Ich denke, wir schaffen die Einheit." Und DDR-Regierungschef Hans Modrow gab später zu, dass auch er das damals spürte. Danach machte Kohl seinen "10-Punkte-Plan". Aber man darf auch nicht vergessen: Ohne diese Entwicklung wäre er am Ende gewesen, die nächste Bundestagswahl hätte er sicher verloren. So gewann er dann noch zwei souverän.

Wie entscheidend, wie wichtig war Kohls Vertrauensverhältnis zu Bush und Gorbatschow?

Sehr wichtig. Aber auch nicht wichtiger als Gorbatschows Hoffnung auf sehr viel deutsches Geld als Preis für die Wiedervereinigung – die aber enttäuscht wurde.

Aber die Lippen-Europäer Thatcher, Mitterrand und Andreotti bremsten, wo sie nur konnten. Wie überwand Kohl das Patt?

Mit der unbedingten Unterstützung der USA und dem persönlichen Vertrauen von Präsident George Bush sen. Der rief die Europäer zur Ordnung. Und sein Außenminister Baker überzeugte Gorbatschow, dass Deutschland in der NATO besser kontrollierbar sei als ein neutrales, wie von dem anfangs gefordert.

Kohl erfüllte Mitterrands Bedingung, das deutsche Wohlstandssymbol D-Mark zu teilen. Wie bewusst ließ er Nachteile für Deutschland, etwa das krasse Untergewicht in der EZB, zu?

Kohl hat mit Blick auf die Wiedervereinigung alles andere für zweitrangig erklärt und ganz bewusst den Euro eingeführt. Das wiedervereinigte Deutschland sollte mit Blick auf seine Vergangenheit demonstrativ nicht Führungsmacht in Europa sein, so wie es das bis heute nicht sein will. Kohl verstand nie, dass man sehr für Europa sein konnte und zugleich gegen den Euro, der zu früh kam.

Bis zu 28 Prozent der Ostdeutschen wählen "Die Linke", die Erbin der SED, umbenannt von deren letztem Chef Gregor Gysi, jetzt Fraktionschef im Bundestag. Wie ist das erklärbar?

Eine Frage für Psychologen. Ein Grund ist, dass der Osten kaum die 2000-Milliarden Euro-Hilfen des Westens seither würdigt, die auch weiter unentbehrlich sind, und noch weniger die Leistung der Marktwirtschaft, die sie erst ermöglichte.

Auch wird die DDR-Diktatur zwar schneller aufgearbeitet als einst die der Nazis, aber nur auf Initiative des Westens. Und was aufgearbeitet wurde, wird nicht breit vermittelt. Das begünstigt Verharmlosung und Weichzeichnung durch die Linke.

25 Jahre danach stellen die Kommunisten wohl wieder einen Landeschef, den in Thüringen. Ist das die "überfällige Normalisierung", wie sie sagen?

Nein, Gysi steht für kommunistische Kontinuität. Die SPD schielt damit, auch wenn sie es dementiert, auf Berlin, wo SPD-Chef Gabriel nur mit Linker und Grünen Kanzler werden kann. Eine Machtstrategie ohne Rücksicht auf Verluste: Die Entstigmatisierung ist für die Linke ein Durchbruch, der die Differenzen zwischen Ost- und Westdeutschen vertieft.

Die Ostdeutschen zahlten den höheren Preis für Nazi-Gräuel und -Krieg, weil die Sowjets ihnen das DDR-Regime aufzwang. Sind wir im Westen zu streng?

Ja, das stimmt, das vergisst man im Westen oft. Fest steht aber auch: Ohne dessen gigantische Hilfe nach der Wiedervereinigung wäre die DDR heute auf dem Niveau von Tschechien. Und die Hälfte ihrer Bürger hätte in der BRD um Asyl angesucht. So ging nur ein Zehntel rüber.

Freie Universität Berlin

Nirgends wird die 40-jährige Geschichte der DDR und ihrer Transformation in die BRD so wissenschaftlich umfangreich bearbeitet wie beim "Forschungsverbund SED-Staat" der Freien Universität Berlin. 30 Historiker legten seit 1992 über 1000 Publikationen, Bücher und eine Zeitschrift vor. Der Forschungsverbund und sein Leiter, Prof. Klaus Schröder, 65, sind trotz Kritik von links viel gefragte, weil objektive Mahner gegen die Verharmlosung der DDR.

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