Griechenland: "Es wird bald zu einer Explosion kommen"

Tausende Flüchtlinge versuchen, den Stacheldraht zu überwinden.
KURIER-Reporterin im Flüchtlingslager an der griechisch-mazedonischen Grenze. Die Lage spitzt sich dramatisch zu.

"Lasst uns durch, lasst uns durch", schreien Hunderte Flüchtlinge verzweifelt an der griechisch-mazedonischen Grenze. "Wir sind keine Gefangenen" und "Wir wollen in Freiheit leben", rufen Frauen dazwischen. Mit ihren Händen rütteln sie am Stacheldrahtzaun an der mazedonischen Grenze, neben ihnen tummeln sich Kinder am Boden, viele ohne Socken und Schuhe.

Die Szene spielt sich nur wenige Stunden nach den schrecklichen Ausschreitungen ab, als Hunderte Flüchtlinge den Grenzzaun stürmen wollten und von mazedonischen Polizisten mit Tränengas und Blendgranaten zurückgetrieben wurden.

Selbst der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier zeigte sich bestürzt. "Die Bilder belegen, dass man versuchen kann, eigene nationale Wege zu finden, aber dass sie nicht zur Lösung führen." Eine konservative griechische Europa-Abgeordnete hat die Kommission aufgefordert, Mazedonien wegen seines Vorgehens den Status als Beitrittskandidat zu entziehen.

Bissige Hunde

Kein Tag vergeht, wo Flüchtlinge nicht Gewalt ausgesetzt sind. Scharfe Polizeihunde werden auf der mazedonischen Seite auf Flüchtlinge gehetzt, mehrmals gab es bereits Bissverletzungen, gestern wurde ein Mädchen schwer verletzt.

Die Verzweiflung im unüberschaubaren Lager ist groß. Knapp Zehntausende Flüchtlinge, so die Schätzung der lokalen Behörden, warteten Montagabend auf die Weiterreise. Und stündlich kommen neue mit ihren wenigen Habseligkeiten an. Hier in Idomeni ist aber Endstation, es staut sich gewaltig.

"Helfen Sie uns"

Die junge Frau aus Aleppo zittert am ganzen Körper, vor zehn Tagen kam sie aus der Türkei in Griechenland an. In den Armen hält sie ihre dreijährige Tochter, sie hat hohes Fieber. "Ich habe keine Medikamente, bitte gebt mir ein Zelt und eine Decke", fleht sie EU-Abgeordneten Josef Weidenholzer an.

In einer Schlange von mindestens einem halben Kilometer stehen Syrer und Iraker um Essen an. Die Krankenstation ist in einer Baracke, für Mütter und ihre Neugeborenen gibt es ein beheiztes Zelt. Zehn Babys kamen in den vergangenen Tagen auf die Welt. Ein irakischer Kurde zeigt uns stolz seinen Sohn Andin. Er will mit der Familie so schnell wie möglich nach Deutschland. "Helfen Sie uns", der ausgebildete Techniker zeigt uns den Pass, er glaubt, ein Dokument für den Weg in die Freiheit zu haben. Doch er muss warten. Bestenfalls einmal am Tag öffnet sich der Checkpoint, um eine ausgewählte Gruppe nach Mazedonien durchzulassen. Am Montag waren es gerade 20 Personen.

Eisige Kälte

Andere verharren weiter in der Kälte, viele müssen im Freien übernachten. Im Niemandsland schlafen sie auf nassen Böden, seit zwei Tagen gibt es nichts mehr zum Essen, schreien sie durch den Zaun. Zwischen griechischer und mazedonischer Grenze sammeln sich jene Flüchtlinge, die von Balkanländern abgewiesen werden und die Griechenland nicht nimmt.

Dunkler Rauch liegt über dem Lager, die Luft ist stickig, das Atmen fällt schwer. An unzähligen kleinen Feuern wärmen sich die Flüchtlinge. "Seit es keine Marokkaner mehr hier gibt, sind die Aggressionen zurückgegangen", sagt unser griechischer Begleiter Vassilis Tsartsanis. Er koordiniert Hilfsaktionen und besucht die Flüchtlinge jeden Tag. Dutzende Lebensgeschichten kennt er. "Das Schlimmste ist, nicht zu wissen, wie es weitergeht, keine Informationen zu haben."

Griechen helfen

Tränengas und Wasserwerfer wurden bereits eingesetzt, Mitglieder der neofaschistischen Partei "Goldene Morgenröte" zündeln. "Wenn es so weitergeht, wird es bald zur Explosion kommen", bemerkt die Mitarbeiterin von Médecins sans Frontières.

Noch ist die große Mehrheit der Griechen aus der Umgebung hilfsbereit. Sie bringen täglich Lebensmittel und Kleider in das Lager. Wenn es diese Unterstützung und den Beitrag der NGOs nicht gäbe, "wäre schon die humanitäre Katastrophe ausgebrochen. Täglich kommen rund 1000 Flüchtlinge dazu", weiß Evelina Politidou, die Vizebürgermeisterin der Gemeinde.

Das Lager in Idomeni ist übervoll, die Armee hat jetzt innerhalb von nur zwei Tagen eine Zeltstadt in der Nähe errichtet. Bis zu 5000 Flüchtlinge können in "New Kavala" untergebracht werden. Doch was dann passiert, wenn auch dieses Lager voll ist, weiß auch der General nicht. Und die sieben Frontex-Mitarbeiter schon gar nicht. "Sie haben kein Mandat, um tätig zu werden", heißt es hier an der EU-Außengrenze.

Josef Weidenholzer besuchte als erster EU-Politiker das Flüchtlingslager Idomeni. Als Menschenrechtssprecher der Europäischen Sozialdemokraten beschäftigt er sich seit vielen Monaten mit dem Flüchtlingsproblem und der Schlepperkriminalität entlang der Balkan-Route. Der KURIER begleitete den EU-Abgeordneten auf seiner Reise in Mazedonien und Griechenland.

KURIER: Herr Abgeordneter, die Flüchtlinge haben sich gewundert, dass ein Politiker sie besucht und mit ihnen spricht. Die Flüchtlinge haben Ihnen Beifall gezollt und Sie als "good man" bezeichnet. Was sind Ihre Eindrücke?

Josef Weidenholzer: Ich bin beeindruckt, welche Würde sie trotz ihrer Schicksale und Traumatisierungen zeigen. Im Lager Idomeni sind gut ein Drittel Kinder, viele jüngere Frauen und Männer. Ich frage mich, ob hier eine "Generation Flüchtlingszelt" heranwächst?

Was schlagen Sie vor, dagegen zu unternehmen?

Nur eine gemeinsame Lösung der EU – und nicht Alleingänge – kann das Problem lösen. Es braucht einen gemeinsamen EU-Außengrenzschutz, ein gemeinsames Asylverfahren und eine Reform des Dublin-Systems. Ich halte auch an der Verteilung nach einer Quote fest. Auch ein Konzept für legale Einwanderung ist erforderlich, um nicht von kriminellen Menschenschmugglern abhängig zu sein. Natürlich muss es auch Anstrengungen der Länder und der Gesellschaften geben, die Flüchtlinge auszubilden und zu integrieren.

Vieles von dem, was Sie aufzählen, funktioniert nicht, ist an der Unsolidarität der Mitgliedsländer gescheitert. Ist das nicht ein frommer Wunsch?

Ich erwarte Lösungen vom EU-Sondergipfel am 7. März. Zuvor wird auch die EU-Kommission eine Reform der Dublin-Regeln, die eine faire Aufteilung der Flüchtlinge vorsehen, präsentieren.

Verdient Griechenland das Bashing der österreichischen Bundesregierung?

Das ist sehr kurzsichtig, wenn man EU-Partner gegeneinander ausspielt. Griechenland ist willens und fähig, etwas zu tun. Fragt sich niemand, was Instabilität in Griechenland bedeutet? Eine humanitäre Katastrophe und eine schwere wirtschaftliche und politische Krise. Das alles weckt nur Begehrlichkeiten vonseiten Putins. Außerdem ist Griechenland eine Demokratie, das kann man bei Mazedonien noch nicht sagen.

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