"Wollen nach Kobane, nicht in die EU"

Die kurdische Stadt Kobane an der syrisch-türkischen Grenze ist völlig zerstört.
Vertriebene Kurden aus Nordsyrien verlassen türkische Camps und kehren in ihre Heimat zurück.

Ein eisiger Wind bläst durch die engen Straßen des Zeltlagers am Stadtrand der türkischen Grenzstadt Suruç. Nesrin, die hagere Frau im bodenlangen Kleid, zieht die Plane hoch und zeigt uns das Innere ihrer Unterkunft. Auf dem Gaskocher in der Ecke köchelt eine Suppe, am kalten Boden liegt ihr Baby. Seit einem Jahr haust sie hier mit Mann und sechs Kindern. Auf die Frage, ob sie in ihre Heimat zurückkehren will, sagt sie leise: "Wer will das nicht." Ihr Mann ist gesprächiger. Das Dorf nahe Kobanê, wo die Familie lebte, wurde im Herbst 2014 von der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) gestürmt. "Sie haben unser Haus beschossen, im Morgengrauen packte ich die Familie – und wir fuhren los. Wir wussten, der IS mordet. Wir wollen nach Kobanê zurück, nach Europa will niemand."

4500 Kriegsflüchtlinge waren bis vor vor Kurzem in einem der Lager von Suruç untergebracht, jetzt harren noch Hunderte in 70 Zelten aus, gefangen im Nichtstun. Rund 200.000 Menschen aus dem Kanton Kobanê, 60.000 aus der Stadt selbst, flüchteten in die Türkei, so die Zahlen der Flüchtlingskoordination in Kobanê. Bisher sind 175.000 zurückgekehrt. Die Einwohnerzahl der Region von Kobanê lag vor dem Krieg bei 450.000.

Widerstand gegen IS

Viele sind nach Kobanê, dem Symbol des Widerstandes gegen die IS, zurückgekehrt. In den den Trümmern der monatelang von der IS belagerten Stadt entsteht neues Leben. In den Ruinen öffnen kleine Geschäfte, Bauern bewirtschaften wieder die Felder, fünf Spitäler behandeln Verletzte und seit Oktober gibt es in 118 Schulen wieder Unterricht in drei Sprachen – Kurdisch, Arabisch und Englisch. "Das Ziel sind 264 Schulen. Wir sind in der Aufbauphase und brauchen dringend Hilfe. 75 Prozent der Stadt waren völlig zerstört", sagt Enver Muslim, Ministerpräsident des Kantons Kobanê. Der Politiker des autonomen Kurdengebietes in Nordsyrien wollte nicht bestätigen, dass es Restriktion für die Ausreise gibt, nur jene, die einen triftigen Grund haben, dürfen gehen. Von der EU erwartet Muslim Hilfe für den Wiederaufbau sowie Verhandlungen mit der Türkei, die Grenze ständig zu öffnen, um die Rückkehr der Flüchtlinge zu ermöglichen, sowie um Nahrungsmittel, Medikamente und Baustoffe zu importieren. Der Spitzenpolitiker ersucht EU-Parlamentarier Josef Weidenholzer (siehe Interview), mehr für Aufklärung zu sorgen, was den Menschen am Weg nach Europa passiert.

Langer Arm Ankaras

Wie groß der Andrang der Flüchtlinge zur Rückkehr ist, sieht man an der Grenze bei Suruç. Vergangenen Donnerstag warteten rund 2000 Menschen und Hunderte kleine Lkw, bis zum Dach mit Hausrat beladen, auf den Grenzübertritt. Nur an zwei Tagen der Woche, Montag und Donnerstag, werden die Grenzbalken geöffnet, 2500 Menschen schaffen dann die Rückkehr. Den Rest der Woche heißt es warten. Die Türken sind streng, der lange Arm Ankaras greift bis tief nach Südostanatolien durch.Klartext redet Ibrahim Sipan: Er arbeitete mehr als 20 Jahre in Hannover und ist vor einigen Monaten zurückgekehrt, um das Zentrum für den Wiederaufbau in Kobanê zu leiten. "In den ersten Wochen nach dem Krieg mussten wir die Straßen vom Schutt befreien. 1,5 Millionen Tonnen in mehr als 100.000 Lkw wurden weggebracht." Er wünscht sich, dass "die EU-Politiker weniger reden und mehr Druck auf die Türkei machen. Wir brauchen dringend einen humanitären Korridor von der Türkei nach Kobanê".

Jesiden wollen weg

Im Grenzgebiet sind nicht nur kurdische Flüchtlinge aus Syrien untergebracht, sondern auch 4000 Jesiden (religiöse, nicht-muslimische Minderheit). Sie flohen vor dem Genozid durch IS-Truppen aus dem Irak und leben jetzt in der Nähe Diyarbakir in einem Lager. Im Unterschied zu den syrischen Kurden wollen sie weg. "Wir haben hier keine Zukunft. Europa muss uns aufnehmen", fleht ein Mann die EU-Delegation an. Viele Frauen verstecken sich in den Zelten, sie sind schwer traumatisiert.

Der Menschenrechtssprecher der Europäischen Sozialdemokraten im EU-Parlament, Josef Weidenholzer, besuchte in den vergangenen Tagen die kurdische Stadt Kobane und Flüchtlingslager an der türkisch-syrischen Grenze.

KURIER: Herr Abgeordneter, wie schlimm ist die Lage?

Josef Weidenholzer: Kobane ist völlig zerstört, aber der Wille der Menschen zum Wiederaufbau und Zusammenleben verschiedener Kulturen und Religionen ist präsent. Das ist positiv. Die Flüchtlingskrise kann nur hier gelöst werden.

Was muss die EU konkret tun?

Die Menschen wollen unbedingt in der Region bleiben. Die EU muss jetzt vor Ort schneller und großzügiger handeln. Von der Türkei erwarte ich, dass sie die Grenze zu Nordsyrien ständig offen hält, um den Flüchtlingen die Rückkehr rascher zu ermöglichen. Die gesamte Region ist auf humanitäre Hilfen angewiesen. Rückkehr und Unterstützung muss die EU sofort mit der Türkei verhandeln. Essenziell ist auch ein Kriegsende in Syrien.

Ist die Türkei in der Flüchtlingsfrage ein zuverlässiger Partner?

Es ist sinnvoll, dass die EU mit der Türkei kooperiert, das gegenseitige Vertrauen muss aber gestärkt werden. Es geht um ein faires Spiel. Eine EU-Türkei-Zusammenarbeit ist aber kein Freibrief für Ankara, das Kurdenproblem nicht zu lösen.

Sind Sie für Beitrittsverhandlungen mit der Türkei?

Die Verhandlungen sind ein schwieriger Balance-Akt, die Richtschnur sind die Kopenhagener Kriterien, das heißt, der Aufbau demokratischer Strukturen, Rechtssicherheit, der Schutz von Minderheiten und Menschenrechte. Es darf keine Tricksereien geben.

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