Japan stolpert über seinen Stolz

Nationalistische Töne prägten den Parteienstreit vor dem Urnengang am Sonntag.

Die Zeitbombe tickt. Dennoch wurde sie im Wahlkampf vor den Parlamentswahlen am Sonntag einfach ignoriert: die Überalterung der Gesellschaft mit all ihren Konsequenzen. Mit diesem Thema ließe sich aber ohnehin kein Blumentopf gewinnen. Denn der einzige Ausweg aus dem Dilemma, Einwanderer ins Land zu holen, wird von der alternden, zunehmend nationalistisch gesinnten Bevölkerung abgelehnt.

„Diese Debatte wäre politischer Selbstmord“, brachte es Arudou Debito, ein Autor US-japanischer Herkunft, gegenüber der Zeit auf den Punkt. „Die meisten Japaner können es sich einfach nicht vorstellen, ihr Land mit Ausländern teilen zu müssen.“ Er – aber vor allem seine Töchter – werden immer wieder Opfer von Diskriminierung. Ein Gesetz, das dies bestrafen würde, gibt es nicht. In Umfragen gesteht nur die Hälfte der Japaner Ausländern die gleichen Grundrechte zu. Ein Drittel ist strikt gegen weitere Einwanderung.

Dabei gibt es im Inselreich mit seinen 128 Mio. Bewohnern nur 2,1 Mio. Ausländer. 17 Mio. ausländische Arbeitskräfte bräuchte das Land laut UN-Schätzungen bis zum Jahr 2050. Dann wird Japans Gesellschaft, in der seit Jahrzehnten viel zu wenige Kinder geboren werden, auf unter 90 Mio. geschrumpft sein. Bereits jetzt ist jeder vierte Japaner älter als 65 Jahre. Alle Versuche, die Kinderzahl mit mehr Kindergärten oder Kindergeld anzuheben, haben nicht gefruchtet. Frauen, die zu zwei Drittel berufstätig sind, klagen weiterhin über mangelnde Kinderbetreuungseinrichtungen.

Die Perspektiven sind wenig erfreulich: enorme Kosten für die Pensionen, die Pflege und medizinische Versorgung alter Menschen, während zugleich die Steuereinnahmen schrumpfen und im Dienstleistungs- sowie auch Produktionsbereich Arbeits- und Fachkräfte fehlen.

Das Problem ist seit den 1980ern bekannt. Damals wurden japanisch-stämmige Brasilianer ins Land geholt. Aber heimisch wurden sie nie. Politik und Medien machten eher Stimmung gegen sie. Die meisten der 300.000 Zuwanderer verließen Japan im Zuge der Finanzkrise wieder: Die Regierung zahlt seit 2009 sogar Tickets für die Heimreise.

Im Kranken- und Pflegebereich holt Japan Fachkräfte von den Philippinen und Indonesien. Aber auch diese, so dringend gebrauchten Menschen sollen sich nicht auf Dauer niederlassen – oder gar vermehren: Nach vier Jahren müssen die Pfleger eine Pflege-Prüfung ablegen – auf Japanisch. Schaffen sie diesen Test, der in drei japanischen Alphabeten abgefragt wird, nicht, müssen sie das Land verlassen. Nur einer von zehn bleib.

Nationalstolz

Diese Themen wurden im Wahlkampf ebenso ausgespart wie sämtliche andere Sorgen. Seit 20 Jahren steckt Japan in der Krise. Die Verschuldung des Landes beträgt 240 Prozent der Wirtschaftsleistung – so gemessen ist sogar Griechenlands Staatsschuld geringer. Erzrivale China hat Japan als weltweit zweitstärkste Wirtschaftsmacht abgelöst.

Der verletzte Nationalstolz führt zum Rechtsruck des Landes. Nationalistische Töne – vor allem gegen China – werden lauter. Ausdruck dessen ist der erbitterte Streit mit China um die Sekanku-Inseln – ein paar unbewohnte Felsen. Der erzkonservative Ex-Gouverneur von Tokio, Shintaro Ishihara, der die Inseln von ihren privaten Eigentümern kaufen wollte und damit die Krise entfacht hat, gründete mittlerweile eine eigene Partei. Gemeinsam mit dem rechtspopulistischen Bürgermeister von Osaka, Toru Hashimoto, könnte diese „Erneuerungspartei“ am Sonntag zweitstärkste Kraft werden.

Sicher ist, dass der Demokratischen Partei von Noch-Premier Yoshihiko Noda ein Wahlfiasko bevorsteht. Sie hat in drei Jahren drei Regierungschefs verschlissen. Nach ihrem Absturz 2009 steht damit die Rückkehr der Liberaldemokratischen Partei LDP von Ex-Premier Shinzo Abe an die Macht bevor. Kritiker befürchten damit die Rückkehr zur alten Schuldenpolitik: Jahrzehntelang pumpte die regierende LDP Milliarden in öffentliche Bauprojekte und machte Japan zum Mega-Schuldner. Die Bilanz Abes, der 2006 bis 2007 Premier war, ist aus Sicht von Florian Coulmas, Direktor des Deutschen Instituts für Japan-Studien in Tokio, vernichtend: „Abe hat nichts geleistet. Ein Totalversager.“

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