Extremisten feuern auf Atomreaktor in Dimona

Die Lage im Gazastreifen spitzt sich zu
Die blutige Auseinandersetzung hat bislang 40 Todesopfer gefordert.

Neuen Angaben zufolge haben palästinensische Extremisten erstmals auch Raketen auf den einzigen Atomreaktor Israels in Dimona abgefeuert. Insgesamt seien drei Raketen auf Dimona abgeschossen worden, erklärten die israelischen Streitkräfte am Mittwoch. Schäden oder Verletzte habe es nicht gegeben. Das Kraftwerk liegt in der Negev-Wüste, rund 80 Kilometer südöstlich des Gazastreifens.

Derzeit sieht es nach keinem Ende der Eskalation zwischen Israel und Palästina im Nahen Osten aus: Militante Palästinenser feuerten das erste Mal seit 2012 Raketen auf Tel Aviv, Jerusalem und nach eigenen Angaben auch auf Haifa. Außerdem schlug knapp 120 Kilometer vom Gazastreifen entfernt ein Geschoss ein, so weit haben militante Palästinenser nie zuvor eine Rakete geschossen. Insgesamt seien rund vier der acht Millionen Menschen in Israel durch Raketen bedroht, sagte ein Armeesprecher. Berichte über israelische Opfer gab es bisher nicht.

Israel antwortet mit Luftangriffen

Israel antwortete mit Luftangriffen auf Hunderte "Terrorziele" binnen 24 Stunden. Bei einem israelischen Luftangriff auf den Gazastreifen ist nach palästinensischen Angaben am Mittwoch eine fünfköpfige Familie getötet worden, darunter eine Frau und zwei Kinder. Das teilte Ashraf al-Kidra mit, Leiter der örtlichen Rettungsdienste.

Insgesamt seien am Mittwoch 16 Menschen ums Leben gekommen, darunter zwölf Frauen und Kinder. Damit stieg die Zahl der Toten am Nachmittag auf insgesamt 40. Mehr als 300 Menschen seien verletzt worden. Unter den Toten seien auch eine 80-Jährige und fünf Buben im Alter von 2 bis 15 Jahren.

Die Armee habe die Häuser von mehr als 40 militanten Palästinensern bombardiert, teilte die Hamas mit. Die israelische Armee ruft für gewöhnlich kurz vor den Angriffen zur Warnung die Familien an und fordert sie zum Verlassen der Gebäude auf. In mehreren Fällen hätten sich Einwohner jedoch geweigert und seien dann getötet worden, berichteten Angehörige und Augenzeugen.

SOS-Kinderdorf

In der Nähe eines SOS-Kinderdorfes in Rafah (Gazastreifen) seien mehr als 15 israelische Raketen auf Hamas-Camps niedergegangen, teilten die SOS-Kinderdörfer weltweit mit.

Die Kinder des Dorfes seien durch die Detonationen traumatisiert worden, alles sei mit Staub bedeckt gewesen. Aus Sicherheitsgründen dürften die Kinder das Dorf nicht mehr verlassen. Die Organisation appellierte an Palästinenser und Israelis, das Dorf und dessen Umgebung als Kinderschutzzone zu akzeptieren und jegliche Kampfhandlungen in der Umgebung einzustellen. An beide Seiten seien die genauen Koordinaten übermittelt worden.

Raketen aus dem Gazastreifen

Die Reaktion ließ nicht lange auf sich warten: Am Mittwoch haben in Tel Aviv erneut die Warnsirenen wegen massiven Raketenbeschusses geheult. Menschen eilten in die Schutzräume. Es waren mehrere dumpfe Explosionen zu hören. Das israelische Radio teilte mit, dass im Großraum Tel Aviv mindestens fünf Raketen durch das Abwehrsystem "Eiserne Kuppel" abgefangen worden seien.

Bereits am Dienstag ist eine weitere aus dem Gazastreifen abgefeuerte Rakete abgefangen worden. Im Zentrum der Stadt war keine Warnsirene, aber eine dumpfe Explosion zu hören. In Tel Aviv ging am Morgen dennoch das öffentliche Leben ungeachtet der Angriffe weiter. Die Geschäfte blieben geöffnet, der Verkehr floss und die Börse eröffnete im Plus.

Auch in Jerusalem heulten am Dienstag die Warnsirenen. Es waren laute Explosionen zu hören. Eine abgefeuerte Rakete ist direkt in ein Haus eingeschlagen. Das israelische TV berichtete, niemand sei verletzt worden.

Haifa unter Beschuss

Die im Gaza-Streifen herrschende radikalislamische Hamas erklärte am Abend, sie habe auch die nordisraelische Hafenstadt Haifa unter Beschuss genommen. Der Angriff auf die drittgrößte Stadt Israels wäre der bisher weitreichendste Schlag auf israelisches Territorium.

Krisentreffen in Palästina

Bei einem Krisentreffen hat der palästinensische Präsident Mahmoud Abbas Israel wegen der Luftangriffe auf Ziele im Gazastreifen am Mittwoch "Völkermord" vorgeworfen. "Das ist ein Völkermord. Die Ermordung ganzer Familien ist ein Völkermord, den Israel an unserem palästinensischen Volk verübt", sagt Abbas in Ramallah.

Seit Beginn der Operation "Schutzrand" am Dienstag sind bei israelischen Luftangriffen nach palästinensischen Angaben 43 Menschen getötet worden, darunter Frauen und Kinder. Radikale Gruppen feuerten in der Zeit rund 160 Raketen auf israelische Ziele. Einige Raketen schlugen in Jerusalem und sogar in Zielen weit im Norden ein. Getötet wurde dadurch nach israelischen Angaben bisher niemand.

Danon: Stop der Energielieferung

Der israelische Vizeverteidigungsminister Danny Danon hat am Mittwoch Israels Regierung aufgerufen, umgehend Treibstoff- und Stromlieferungen in den Gazastreifen zu unterbinden.

Es sei unfassbar, "dass wir mit der einen Hand die Hamas bekämpfen und mit der anderen Treibstoff und Strom liefern, die dazu verwendet werden, um Raketen zu transportieren, die auf uns abgefeuert werden", meinte der Likud-Politiker laut Jerusalem Post. Danon forderte, jede Form des Drucks, über den Israel verfügen könne, auszunutzen, um die Hamas zu einem Waffenstillstand zu zwingen.

Seit Ägypten den Schmuggel von Treibstoff in den Gazastreifen unterbunden hat, ist das Gebiet ganz von Lieferungen aus Israel abhängig. Sie werden von der Palästinensischen Autonomiebehörde im Westjordanland finanziert.

USA verurteilt Raketenangriffe

DieUSAhaben die Raketenangriffe militanter Palästinenser aufIsraelverurteilt. Israel habe ein Recht auf Selbstverteidigung, sagte Regierungssprecher Josh Earnest am Dienstag. Earnest zeigte sich zugleich besorgt über die Sicherheit von Zivilisten auf beiden Seiten. "Es ist nicht im Interesse der beiden Seiten, dass diese Gewalt weitergeht oder gar eskaliert", sagte der Regierungssprecher.

Ebenfalls äußert sich der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) zur Lage im Gazastreifen. Er fordert ein umgehendes Ende des Raketenbeschusses Israels aus dem Gazastreifen gefordert. Steinmeier sagte der Bild-Zeitung (Donnerstagsausgabe): "Der mörderische Raketenbeschuss der Hamas auf israelische Städte muss sofort gestoppt werden."

Angriffe auf Zivilisten seien "durch nichts zu rechtfertigen". Es dürften "nicht noch mehr Unschuldige sterben". Der Nahe Osten benötige jetzt eine "Koalition der Vernunft". Eine neue Gewaltspirale werde "neue Opfer auf allen Seiten fordern, aber für die Menschen nichts zum Besseren wenden".

Es ist absurd und doch so symptomatisch für die Endlos-Krise im Nahen Osten: Die israelische Zeitung Haaretz hält eine Friedenskonferenz ab, zu der sich US-Präsident Barack Obama schriftlich zu Wort meldet – "Frieden ist möglich". Zugleich schlagen Hamas-Raketen in Israel ein, das mit heftigen Luftbombardements antwortet. Seit Jahr und Tag wird darum gerungen, die "Mutter aller Konflikte" zu lösen, manchmal ernsthaft, manchmal nur pro forma. Das Ergebnis war/ist langfristig immer dasselbe: keines.

Auge um Auge, Zahn um Zahn lautet weiter das archaische Motto. Wobei in diesem scheinbar ewigen Kreislauf schon lange nicht mehr klar ist, wer zuerst zustach. Klar ist lediglich, dass sich selbst die mächtigen Amerikaner an der aktuellen israelischen Führung die Zähne ausbeißen.

Premier Netanyahu erweckt den Eindruck, dass er gar nicht an einem Friedensschluss mit den Palästinensern interessiert ist. Der rechte Hardliner argumentiert stets, dass es mit den "Terroristen" der Hamas keinen Dialog geben könne. Okay, in dieser Gruppe tummeln sich extrem gewaltbereite Typen. Aber sprengte nicht auch der spätere israelische Premier Menachem Begin 1946 das King-David-Hotel in Jerusalem in die Luft, wo die britischen Besatzer Büros hatten? Und wurde einst nicht auch mit dem "Terroristen" Arafat ein Friedensprozess eingeleitet?

Israel sollte schnell Gespräche mit den Islamisten der Hamas aufnehmen. Denn die nächste Generation könnte ähnlich radikal und kompromisslos auftreten wie die IS-Kämpfer (früher ISIS) im Irak und Syrien. Doch Netanyahu fehlen der Mut und das Format eines Yitzhak Rabin, der als israelischer Regierungschef Arafat die Hand reichte – und dafür von einem jüdischen Extremisten ermordet wurde.

Wenn die Sonne im palästinensischen Dorf Barta’a untergeht, befindet sich keine Menschenseele mehr auf den sonst belebten Straßen. Vor einigen Tagen sollen radikale Siedler ins Dorf gekommen sein und versucht haben, ein Kind zu entführen und die Moschee in Brand zu setzen, wird erzählt. Nun fürchten sich die Bewohner und lassen ihre Kinder nach 20 Uhr nicht mehr aus dem Haus.

Geteiltes Dorf

Extremisten feuern auf Atomreaktor in Dimona
Junger Israeli
Barta’a liegt zur Hälfte in Israel und zur Hälfte im besetzten Gebiet des Westjordanlands. Die Bewohner spüren die explosiven Spannungen des Nahostkonflikts im täglichen Leben. Die 16-jährige Mais würde gerne mit ihren Freunden in der Dorfmitte plaudern, doch sie hat zu viel Angst. Wenn Mais in sozialen Netzwerken über die politische Situation diskutieren will, hört sie immer wieder den Satz "Tu das nicht, sonst geht es dir wie Abu Khdeir".

Mohammed Abu Khdeir, das ist jener 16-jährige palästinensische Jugendliche, der vergangene Woche im Westjordanland entführt und ermordet worden war. Die Tat wird einer jüdischen Terrorzelle zugeschrieben und dürfte ein Racheakt gewesen sein – für die Entführung der israelischen Religionsschüler Eyal Yifrah, Naftali Frenkel und Gilad Shaer. Ihre Leichen waren Anfang vergangener Woche unter Steinhaufen im Westjordanland gefunden worden.

Wieso Menschen Rachegefühle gegen unschuldige Menschen hegen, kann der 22-jährige israelische Soldat Noam nicht verstehen. Insbesondere Jugendliche hätten in der gewaltsamen Austragung politischer Konflikte nichts zu suchen, findet er. Persönlich in Gefahr fühlt sich Noam nicht, aber er fürchtet, dass die aufgeheizte Situation eskalieren und es zu einer Welle an Gewalttaten kommen könnte.

Kaum von dem Konflikt betroffen fühlt sich Ariel (22) in der israelischen Region Eshkol, obwohl er sich regelmäßig in Schutzbunkern vor Kassam-Raketen aus dem Gazastreifen verstecken muss. Der Kibbuz, in dem Ariel wohnt, ist nur einen Kilometer vom Gazastreifen entfernt, und Bombenalarm gehört hier zum Alltag. Jetzt, wo es von beiden Seiten Raketen hagelt (siehe oben), können die Bewohner ihre Bunker kaum mehr verlassen.

Dennoch sagt Ariel im Telefonat mit dem KURIER ganz gelassen: "Persönlich spüre ich die Gefahr gar nicht mehr.‘‘ Auf die Frage, was er denn von der politischen Situation halte, antwortet er: "Wir leben unser Leben, ohne uns viel mit der politischen Situation zu beschäftigen, denn täten wir das nicht, würden hier alle verrückt."

Der politischen Situation entkommen kann Majd (24) als palästinensischer Student in Jerusalem kaum. Seit die Leichen der drei israelischen Jugendlichen gefunden worden sind, sei es für einen Araber nicht mehr sicher, in Jerusalem auf der Straße zu spazieren, sagt Majd.

Für immer weggehen

Besonders leid tut es ihm um die Spiele der Fußball-WM, die er vor einer Woche noch regelmäßig im Stadtzentrum mit seinen Freunden verfolgt hat. Nun hütet er sich davor, allein das Haus zu verlassen, denn viele seiner Freunde seien in letzter Zeit von jüdischen Jugendgruppen auf der Straße verprügelt worden. Für die Zukunft des Nahen Osten sieht Majd schwarz. "Wenn ich eine Chance bekäme, die Region für immer zu verlassen, ich würde keine Sekunde zögern. Ich möchte nicht in einem Land leben, das auf dem Weg ist, wie früher Südafrika mit seinem Apartheidsregime zu werden."

Von Isabel Frey

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