Israel: Am Rande einer neuen Intifada

Wachsende Unruhen wegen Tempelberg-Provokationen, die Netanyahu nicht stoppt.

Jerusalem kommt nicht zur Ruhe. Wann immer die seit Juni andauernden Straßenrandale abschwächen, gibt es neue Besuche rechter israelischer Tempelberg-Aktivisten neben dem moslemischen Felsendom. Mit dabei: Minister und Abgeordnete.

Geheimdienste und Polizei warnen: Die Besuche seien Provokation und werden so verstanden. "Hier ist die Politik gefragt, polizeiliche Aktionen können diese Randalewelle nicht stoppen", so Jerusalems Polizeichef Moshe Edri. Mit ihm warnen die Geheimdienstchefs: Die Tempelberg-Besuche müssen aufhören. Sie fachen immer wieder die Unruhen an.

Noch sind diese Krawalle örtlich und auf Heranwachsende begrenzt. Also keine umfassende Intifada-Rebellion. Aber was nicht ist, könnte noch werden.

Mittwochabend raste erneut ein palästinensischer Amok-Fahrer südlich von Jerusalem in eine Gruppe Passanten. Drei Soldaten wurden schwer verletzt. Der Täter stellte sich gestern der Polizei. Auch er ein spontaner Einzeltäter. Wie schon ein früherer Amok-Raser und der Attentäter, der einen Tempelberg-Aktivisten schwer verletzte.

Streitpunkt Tempelberg

Nach der israelischen Eroberung 1967 blieben die islamischen Heiligen Stätten auf dem Tempelberg unter jordanischer Verwaltung. Israels Polizei sichert ihn ab. Juden dürfen das Areal, auf dem einst das höchste jüdische Heiligtum stand, besuchen, aber dort nicht beten. Israels Premier Benjamin Netanyahu gab vor einigen Wochen eine formelle Erklärung ab: Er stimmt einer Änderung dieses Status quo auf keinen Fall zu. Doch bremst er die umstrittenen Besuche der jüdischen Tempelberg-Aktivisten nicht. Auch nicht die aus seiner Partei und Koalition.

Jordaniens König Abdallah rief jetzt seinen Botschafter zurück. Auch für ihn sind die Besuche eine Provokation. Denn auf ihren Veranstaltungen sagen die Aktivisten offen, worum es ihnen neben der Gebetsfreiheit tatsächlich geht: "Der Wiederaufbau des (vor 2000 Jahren zerstörten) Tempels", so Rabbi Glick eine Stunde vor dem Attentat gegen ihn, "sie halten uns für esoterisch, für abgehoben, Halluzinatoren – aber wir schaffen es."

Mahmud Abbas, Präsident der Palästinensischen Autonomie (PA), ruft im Gegenzug "zur Verteidigung unserer Heiligtümer" auf. Andrerseits weist er seine Polizei an, die Unruhen um und in Jerusalem nicht auf die PA überschwappen zu lassen. Seine Sicherheitskräfte koordinieren ihre Maßnahmen weiter mit der israelischen Armee. Diese erklärt offen: Kann von einer Intifada (noch) nicht die Rede sein, dann auch wegen Abbas. Eine umfassende Intifada würde auch ihn bedrohen. Die erste, 1987, führte zum Aufstieg der militanten Hamas-Islamisten. Die zweite, 2000–2005, führte die PA und die Fatah-Partei von Abbas in den Ruin. Sie wurde ausgelöst durch einen provokanten Besuch auf dem Tempelberg durch den damaligen Oppositionsführer und späteren Premier Ariel Sharon.

Netanyahu schwemmen die Unruhen Wähler zu. In Zeiten der Gewalt rücken Israels Wähler nach rechts. So gewann Netanyahu 1996 und 2005 die Wahlen. Gleichzeitig setzt der Premier aber auch die letzte internationale Unterstützung aufs Spiel. Immer mehr westliche Staaten erkennen Palästina an. Sogar das schützende US-Veto im UNO-Sicherheitsrat wackelt. Verliert Israel die US-Unterstützung, rückt der Wähler nach links. So verlor Netanyahu 1999 die Wahlen.

Zunächst raste er mit seinem Van in die erste Menschenmenge, dann in eine zweite bei einer Straßenbahnhaltestelle. Als das Auto zum Stillstand kam, stieg der Attentäter aus und schlug mit einer Eisenstange auf die Wartenden ein. Ein Polizist erschoss den Angreifer. Bei dem Terroranschlag vom Mittwoch an der alten Grenze zwischen West- und Ostjerusalem wurde ein Polizist getötet, 14 weitere Menschen wurden verletzt, drei davon schwer.

Laut Medienberichten handelte es sich bei dem Attentäter um Ibrahim al-Acri. Der Mann sei den Sicherheitsbehörden als Hamas-Aktivist bekannt gewesen, sein Bruder habe sich unter jenen palästinensischen Gefangenen befunden, die im Austausch mit dem israelischen Soldaten Gilad Schalit freigekommen waren. Al-Acri hatte als Bewohner Ostjerusalems eine israelische Identitätskarte. Mit dieser können sich Palästinenser in der Stadt frei bewegen.

Die Verantwortung für die Tat übernahm die radikal-islamische Hamas, die im Gazastreifen dominiert und mit der gemäßigteren Fatah eine Einheitsregierung gebildet hat. „Wir gratulieren zu dieser Operation unserer gepriesenen Helden“, hieß es in der Erklärung, in der zudem alle Palästinenser aufgefordert wurden, ähnliche Attacken zu lancieren. Schon am Abend folgte im Westjordanland ein weitere Attacke mit einem Auto. Ein Kleinbus raste in eine Gruppe Soldaten und verletzte drei von ihnen.

Ausschreitungen auf Tempelberg

Es sind nun drei Attentate innerhalb kurzer Zeit, bei denen palästinensische Angreifer mit einem Automobil in eine Menschengruppe rasen. Im Oktober starb dabei ein Säugling. Und in der Vorwoche wurde einem rechten israelischen Aktivisten in den Kopf geschossen. Seitdem kommt es in Jerusalem täglich zu Ausschreitungen. Auch Mittwoch lieferten sich Palästinenser und israelische Polizisten auf dem Tempelberg wilde Auseinandersetzungen, als jüdische Aktivisten versucht hatten, auf die den Muslimen heilige Stätte zu gelangen. Es gab Dutzende Verletzte.

Nach den jüngsten Attacken wird der Ruf nach Härte lauter. Bautenminister Uri Ariel forderte Premier Netanyahu auf, Gewalttäter gnadenlos zu bestrafen: „Wer den Terrorismus nicht bekämpft, lädt zur nächsten Attacke ein.“ Wirtschaftsminister Naftali Bennett geht noch einen Schritt weiter: „(Palästinenserpräsident) Abbas ist der Fahrer des Todesautos in Jerusalem.“ Israel müsse die palästinensische Einheitsregierung als terroristische Behörde ansehen und so behandeln. Zudem forderte er in der New York Times eine Abkehr von der Zwei-Staaten-Lösung: „Zum Schutz seiner Sicherheit kann Israel nicht das Entstehen eines Palästinenserstaates erlauben.“

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