Im Kalifat des Schreckens

Keine Musik, keine Plakate, keine Zigaretten: Leben unter dem Terrorregime.

Warum töten wir die Ungläubigen, warum?" Unablässig brüllt der Mann vor der Kamera seinem achtjährigen Sohn die Frage ins Gesicht – so lange, bis der ihm verschüchtert und stockend die erwartete Antwort gibt: "Weil sie uns töten, überall."

Es sind irritierende Eindrücke aus einem bisher völlig von der Außenwelt abgeriegelten riesigen Landstrich von Nordsyrien bis kurz vor Bagdad. Geliefert hat sie der Journalist Medyan Dairieh. Er war der Erste, der für die US-Internet-Reportageplattform Vice News aus dem selbst ernannten Kalifat der Terrorgruppe IS berichten durfte.

Grausige Propaganda

Im Kalifat des Schreckens
Fighters from Islamic State in Iraq and the Levant (ISIL) hold their weapons as they stand on confiscated cigarettes before setting them on fire in the city of Raqqa April 2, 2014. REUTERS/Stringer (SYRIA - Tags: POLITICS CIVIL UNREST CONFLICT RELIGION SOCIETY TPX IMAGES OF THE DAY)
Vor allem aus deren sogenannter Hauptstadt Al-Rakka im Nordosten Syriens stammen diese Eindrücke, aus einem Alltag irgendwo zwischen nahöstlicher Normalität und faschistischem Wahnsinn. Natürlich sind diese Bilder durch die Zensur der IS-Machthaber gegangen. Zeigen also die islamischen Fanatiker so, wie sich selbst darstellen wollen – und das auch anderswo ausführlich tun. Deren hauseigene, professionelle Propaganda spuckt unaufhörlich Bilder und Filme ins Internet.

Wie Dairiehs Aufnahmen sind auch die voll von Grausamkeiten. In Nahaufnahme und begleitet von "Allah ist groß"-Schreien massakrieren die IS-Kämpfer ihre Gegner, verstümmeln sie, um sie danach mit Beschimpfungen wie "ungläubiger Hund" im Dreck liegen zu lassen. Die schlimmste Verachtung wird den Soldaten der syrischen und der irakischen Armee entgegengebracht. Sie werden enthauptet, ihre Köpfe stecken über Tage auf Zaunpfählen mitten im Stadtzentrum von Al-Rakka.

Angstpropaganda ist eine wichtige Waffe der Terrorgruppe – und sie wirkt nachhaltig. Dörfer und Städte sind ihren Milizen kampflos überlassen worden, einfach weil die gesamte Bevölkerung geflohen war. Selbst kampferfahrene kurdische Peschmerga-Soldaten räumten oft ohne einen Schuss das Feld.

Religionspolizei

Doch die IS will mehr als Angst verbreiten. Sie will einen Staat etablieren, will ihr Kalifat Realität werden lassen, samt all den Gesetzen und Verboten, die den Alltag der Menschen bis ins Kleinste regeln. So ist etwa alle Musik mit Ausnahme religiöser Gesänge verboten, CDs werden zerstört. Poster und Plakate mit Filmstars oder Sängern müssen entfernt werden, Rauchen darf man nur hinter verschlossenen Türen.

Dass all diese Vorschriften auch befolgt werden, dafür sorgt eine religiöse Polizei. Die Hisbah patrouilliert Tag und Nacht durch die Straßen. Wird ein Fehlverhalten beobachtet, sind die Bewaffneten sofort zur Stelle. So wird ein Mann ermahnt, darauf zu achten, dass seine Frau ihr bodenlanges schwarzes Kleid beim Gehen nicht hebt. "Ihre Knöchel sind sichtbar", ermahnt der Blockwart den verängstigten Ehemann: "Du willst sie doch nicht zur Schau stellen."Freundlich wollen sie vor der Kamera wirken, doch trotz der Posen wird deutlich, wie viel Angst die Hisbah verbreitet. "Wer nicht gehorcht, den zwingen wir eben", meint ein Bewaffneter.

Und wenn das nicht genügt, wird Haft über die Sünder verhängt. Vor allem jene, die zu Hause Alkohol getrunken haben oder in ihrer Wohnung Hochprozentiges versteckt haben, landen in den improvisierten Zellen.

Dort müssen sie sich dann vor der Kamera für das regelmäßige Essen und die Stockschläge bedanken, die sie zur Strafe bekommen. Nur so, leiern sie ihren Text herunter, hätten sie zurück zum rechten Glauben gefunden.

Vor allem die Kinder des Kalifats sollen diesen rechten Glauben so schnell wie möglich eingetrichtert bekommen. Dafür schickt die IS die Burschen regelmäßig in Erziehungslager. Mädchen sollen das Haus ohnehin so selten wie möglich verlassen.

Wer also unter 16 ist, bekommt in diesen mehrwöchigen Lagern Unterricht in der Scharia, den religiösen Gesetzen des Islam – in der radikalen Auslegung der Fanatiker. Ab 16 wechseln sie dann zur militärischen Ausbildung, werden für den Glaubenskrieg trainiert. Und die Propaganda sorgt dafür, dass sie auf diesen Krieg brennen. Nur manchmal bricht die kindliche Angst aus den fanatisierten Buben heraus. Selbstmordattentäter, kommt es dem Achtjährigen, den sein Vater vor der Kamera brüllend abfragt, nach endlosem Herumdrucksen aus: Selbstmordattentäter möchte er doch nicht werden.

"Angesichts der von ihnen verübten Gräueltaten fehlen die Worte, das Entsetzen zu beschreiben. In ihrem politischen Anspruch sind sie völlig wirr und verblendet. Sie haben nicht das geringste Recht, Muslime vertreten zu wollen ... Sie sind Verbrecher" – Mit deutlichen Worten hat die Islamische Glaubensgemeinschaft in Österreich diese Woche die "Gewaltexzesse" der Gruppe "Islamischer Staat" (IS) verurteilt und an die Öffentlichkeit appelliert, dessen Terror nicht mit "dem Islam" zu verbinden.

Der IS pervertiere die muslimische Religion, auch wenn sich die Aktivisten auf sie beriefen. "Wir haben es in der Geschichte immer wieder erlebt, von Christen, Muslimen und anderen, dass sie sich auf ihre Religion berufen haben, aber Verbrecher waren", sagt Fuat Sanac, Präsident der Glaubensgemeinschaft, zum KURIER. Der IS trete sämtliche Werte des Islam, von der Achtung der Menschenwürde bis zum Schutz von Minderheiten, mit Füßen.

Dass Kämpfer für den IS auch in Österreich rekrutiert werden bzw. hier ansässige Muslime für den Dschihad in Syrien und im Irak werben, erfüllt Sanac mit Sorge. Es handle sich zwar um eine Minderheit, die nichts mit der Glaubensgemeinschaft zu tun habe ("Wir haben unsere Mitglieder unter Kontrolle"). Aber: "Wir müssen mit den Behörden zusammenarbeiten, dass diese Unruhen nicht nach Österreich kommen (etwa über zurückkehrende Dschihadisten, Anm.)." Die Glaubensgemeinschaft allein habe nicht so viele Möglichkeiten – "Wir haben immer wieder an die jungen Muslime appelliert, dass sie nicht eine Seite gegen die andere aufhetzen. Bis jetzt ist uns das gelungen."

Die Glaubensgemeinschaft setzt vor allem auf Prävention: "Durch Bildung und innermuslimischen Diskurs müssen wir dafür sorgen, dass Junge immunisiert sind gegen die Hasspropaganda", sagt Sprecherin Carla Armina Baghajati. 66.000 Schüler besuchten in Österreich den muslimischen Religionsunterricht, die Lehrer würden gerade sensibilisiert, schon Anzeichen von Radikalisierung zu bemerken – "da kann man noch eingreifen". Sie selbst habe tschetschenische Schülerinnen, die "ungeheuer aufgebracht" über die Exzesse des IS seien – und die seien auch Multiplikatoren.

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