Irak-Krise: Teilung als "einzige Lösung"

1,2 Millionen Iraker sind innerhalb ihrer Heimat auf der Flucht. Zuletzt flohen 40.000 Christen, darunter auch viele Kinder, vor der ISIS in Flüchtlingscamps im kurdischen Nordirak.
Leiter des irakischen Krisenstabs schlägt als Ausweg drei autonome Regionen vor.

Iraks längst im In- und Ausland in Ungnade gefallener Premier Nuri al-Maliki wartet noch immer vergebens auf die von ihm geforderten US-Luftangriffe. Derweil setzen die Gotteskämpfer der ISIS im Bündnis mit sunnitischen Stämmen und der Baath-Partei des gestürzten Diktators Saddam Hussein ihren Vormarsch fort. Die radikal-sunnitische ISIS hat offenbar am Sonntag ein „Islamisches Kalifat“ ausgerufen (siehe Zusatzbericht unten).

Die USA lieferten dem Irak noch immer nicht die zugesagten F-16-Kampfflugzeuge und Apache-Kampfhubschrauber. Dafür schickte Russland Hilfe in der Not: Am Sonntag kamen die ersten fünf der vor wenigen Tagen von al-Maliki gekauften russischen Kampfjets des Typs Suchoi im Irak an. Gut ein Dutzend davon hat er in Moskau für einen geschätzten Kaufpreis von 500 Millionen Dollar (367 Mio. Euro) bestellt.

Piloten gesucht

Irak-Krise: Teilung als "einzige Lösung"
A member of Iraqi security forces stands next to a flag with portrait of Shi'ite Imam Abbas ibn Ali during a patrol looking for militants of the Islamic State of Iraq and the Levant (ISIL) west of Kerbala, June 29, 2014. Grand Ayatollah Ali Sistani, the most influential Shi'ite cleric in Iraq, called on the country's leaders on Friday to choose a prime minister within the next four days, a dramatic political intervention that could hasten the end of Nuri al-Maliki's eight year rule. REUTERS/Mushtaq Muhammed (IRAQ - Tags: CIVIL UNREST POLITICS MILITARY CONFLICT)
Dass die gebrauchten Jets ziemlich mitgenommen aussehen, dürfte den Irakern vorerst einmal egal sein. Sofern sich jemand findet, der die Jets, die speziell für Angriffe auf Ziele am Boden geeignet sind, fliegen kann. Denn die Piloten mit Suchoi-Flugerfahrung aus der Saddam-Ära gehören eher dem sunnitischen Lager an. Und dort hat der Schiite al-Maliki wohl kaum einen Anhänger.

Wobei al-Maliki ohnehin bereits am Dienstag Geschichte sein könnte. Da tritt das Parlament in Bagdad zusammen, um über einen neuen Präsidenten und eine neue Regierung zu entscheiden. Und selbst der einflussreiche schiitische Hardliner al-Sadr tritt mittlerweile für eine Einheitsregierung der Schiiten, Sunniten und Kurden ein – ohne al-Maliki.

Der Leiter des Krisenstabes der irakischen Streitkräfte, General Ali al-Saidi, betonte im Interview mit der Welt am Sonntag, dass die Sunniten, die unter Saddam eine tragende Rolle spielten, jetzt eine Perspektive bräuchten. Nur so könnte erreicht werden, dass die Sunniten und Baathisten sich von der ISIS abwendeten. Und die Gotteskrieger der ISIS machten laut dem General vielleicht gerade einmal zehn Prozent der Kämpfer aus.

Bagdad gut geschützt

So oder so, beruhigt der Militär, könne ISIS Bagdad niemals erobern, da vier Divisionen mit Elitesoldaten die Hauptstadt verteidigten. Allerdings könne ISIS Bagdad mit Terroranschlägen erschüttern. Wobei diese schon seit Monaten zum Alltag in Bagdad zählen.

Der Leiter des Krisenstabes schlägt jedenfalls eine autonome sunnitische Region vor. Denn aus seiner Sicht ist die Teilung des Irak in drei autonome Regionen – kurdisch, sunnitisch, schiitisch – ohnehin "die einzige Lösung". Und: "Sie werden sehen, das wird sich in der nächsten Woche, maximal in den nächsten zehn Tagen so ergeben", sagte der Militär im gestrigen Interview.

Im kurdischen Nordirak, der bereits Autonomiestatus hat, kommen derweil immer mehr verzweifelte Christen an. An die 40.000 Christen, darunter viele Kinder, haben ihre Dörfer verlassen und sind vor den radikal-islamischen ISIS-Kämpfern geflohen. Insgesamt sind nach Schätzungen der UNO bereits 1,2 Millionen Iraker als Binnenflüchtlinge im eigenen Land auf der Flucht.

Via Twitter hat die sunnitische Terrororganisation ISIS ein islamisches Kalifat gegründet. In einer Audio-Botschaft, deren Echtheit zunächst nicht bestätigt werden konnte, rief ein Sprecher den Anführer der ISIS, Abu Bakr al-Bagdhadi, zum ersten Kalifen und „Chef aller Muslime“ aus. Es sei eine Pflicht für Muslime weltweit, ihm Gefolgschaft zu schwören.

Ein Kalif vereint als „Stellvertreter des Gesandten Gottes“ die weltliche und die geistliche Führerschaft in sich. Das letzte Kalifat hatte die türkische Regierung 1924 nach dem Ende des Osmanischen Reiches abgeschafft. Die ISIS, ursprünglich ein Ableger der Al Kaida, beherrscht mehrere Regionen im Bürgerkriegsland Syrien sowie im Norden und Westen des Irak, und strebt nach Einschätzung von Experten die Vormachtstellung in der globalen Dschihad-Bewegung an. Dass sie sich offenbar nicht mehr nur auf den Irak und Syrien beschränkt, geht auch aus ihrer Namensänderung hervor: Von „Islamischer Staat in Irak und Syrien“ in „Islamischer Staat“.

Kreuzigungen

Inzwischen nehmen die Kämpfe zwischen ISIS und anderen Aufständischen gegen Syriens Machthaber Bashar al-Assad an Intensität zu. Am Sonntag gab es erstmals östlich von Damaskus Gefechte zwischen der Islamischen Armee und ISIS-Kämpfern. Die Islamische Armee ist ein Stützpfeiler der Islamischen Front, der größten Rebel-
lenkoalition, die die Ausbreitung von ISIS in Syrien bekämpft.

Menschenrechtsaktivisten zufolge haben ISIS-Extremisten in Deir Hafer im Osten der Provinz Aleppo acht rivalisierende Aufständische getötet und gekreuzigt. Die Männer seien auf dem zentralen Platz des Dorfes ans Kreuz geschlagen worden und sollten dort drei Tage lang hängen bleiben. Ein neunter Mann sei nahe der türkischen Grenze – lebend – acht Stunden lang am Kreuz gehangen. Er soll die Tortur überlebt haben.

Mit der Ausrufung des Kalifats will die jihadistische Terrororganisation ISIS an die im Ersten Weltkrieg untergangene Tradition eines islamischen Weltreiches anknüpfen. Kalif (arabisch "Khalifa") bedeutet "Nachfolger" (des Propheten Mohammed). Der Träger des Titels ist der Herrscher sowohl über die muslimische Gesamtheit, als auch über das Territorium, in dem sie mehrheitlich lebt.

Der Prophet hatte keine männlichen Nachkommen und bestimmte auch keinen Nachfolger. Nach seinem Tod im Jahr 632 wählten die Führer der muslimischen Gemeinden den Vater von Mohammeds Lieblingsfrau Aisha, Abu Bakr, zum Nachfolger des Propheten. Er nahm den Titel Kalif an und begründete damit das Kalifat. Die Wahl war aber nicht unumstritten. Eine Minderheit war nämlich der Meinung, Mohammed habe seinen Cousin Ali ibn Abi Talib zum Nachfolger bestimmt.

Gewählt wurden nur die ersten vier Kalifen. Sie werden auch "rechtgeleitete Kalifen" genannt. Der vierte war Mohammeds Cousin und Schwiegersohn Ali. Seine Ermordung im Jahr 661 besiegelte die Spaltung der islamischen Glaubensgemeinschaft in Sunniten und Schiiten. Den Höhepunkt erreichte die Auseinandersetzung im Jahr 910 mit der Gründung eines schiitischen Gegenkalifats der Fatimiden im heutigen Tunesien.

Mehrere Dynastien führten den Kalifentitel. Unter den Omayyaden, die in Damaskus residierten, erreichte das Islamische Weltreich im achten Jahrhundert seine größte Ausdehnung - von der Iberischen Halbinsel bis ins heutige Pakistan. In Bagdad herrschten zwischen dem Jahr 750 und 1268 die Abbasiden.

Die osmanischen Sultane übernahmen im Jahr 1460 den Kalifentitel. Nach dem Zerfall ihres Reiches wurde das Kalifat im Jahr 1924 in der republikanischen Türkei offiziell abgeschafft. Als letzter Kalif amtierte von 1922 bis 1924 Abdulmejid, der Vetter des vertriebenen letzten türkischen Sultans Mehmed VI.

Im Jahr 1924 beanspruchte der haschemitische Großscherif Hussein von Mekka (Ururgroßvater des heutigen jordanischen Königs Abdullah II.) ohne Erfolg das Kalifat. Einen weiteren Versuch, die erloschene Institution zu reanimieren, unternahm der ägyptische König Faruk, der 1952 gestürzt wurde. Im Jahr 1992 drohte dann auch der libysche Revolutionsführer Muammar Gaddafi, sich zum Kalifen ausrufen zu wollen.

Kommentare