Helmut Kohl: Deutsche Ikone neu gedeutet

Helmut Kohl: Deutsche Ikone neu gedeutet
Jubiläum: Nach zehn Jahren abseits der Öffentlichkeit wird Helmut Kohl wieder geehrt – 30 Jahre nach seinem Amtsantritt als Kanzler.

Der Mann, der da im Rollstuhl sitzt, wirkt nicht mehr ganz so imposant wie einst, als er schon rein körperlich alle überragte: Nicht nur die Bewegungsfähigkeit, auch die Mimik ist nach einem Infarkt und Treppensturz 2008 reduziert und mit ihr die Aussprache. Trotzdem: Helmut Kohl, 82, ist wieder im politischen Berlin, physisch – und mehr noch politisch. Zuerst war er am Dienstag nach zehn Jahren wieder in der CDU-Bundestagsfraktion, "meiner politischen Heimat". Heute, Donnerstag, ist Kohl länger Mittelpunkt eines Festakts der Partei im Deutschen Historischen Museum in Berlin.

Anlass ist der 30. Jahrestag seiner Wahl zum deutschen Bundeskanzler am 1. Oktober 1982. Das blieb der CDU-Chef 16 lange Jahre, die Deutschland und Europa mit Wiedervereinigung und EU-Erweiterung veränderten wie keine Periode seit dem Krieg.

Kohl gegen Schmidt

Jetzt, in der Verunsicherung der Staatsschulden-Krise und dem aufziehenden Wahlkampf 2013, wird diese "Ära Kohl" neu gedeutet. Die CDU sucht die historische Legitimierung ihres für die Wähler riskanten Euro-Rettungskurses – und ein Gegenmittel zu dem in den Medien stark präsenten Sozialdemokraten Helmut Schmidt, 93, den Kohl als Regierungschef beerbte.

Regie führt auch da CDU- Chefin Merkel. Einst Kohls wichtigstes ostdeutsches Ziehkind, wurde sie später seine Zuchtmeisterin: Wegen seines "Ehrenworts", die Namen verbotener Partei-Großspender zu verschweigen, leitete sie 2001 Kohls finalen Abschied aus der Politik ein – und ihre Nachfolge in Partei und Kanzleramt. In ihrer schwersten Krise bedrängte die CDU ihn so, dass er seinen Ehrenvorsitz zurückgab.

Heute ist das zwar nicht vergessen, aber weitgehend vergeben: Die Szenen sichtbarer Rührung sind auch die ihrer längst fälligen Versöhnung mit dem Übervater.

Der schließt sich nun auch die deutsche Presse an, die überwiegend Kohl in seiner Regierungszeit bekämpft, mindestens aber als Anti-Intellektuellen verachtet hatte.

Sogar der Spiegel, der am Wahlsonntag 1983 mit dem Titel "Birne darf nicht Kanzler werden" nicht nur den Gipfel der Unfairness, sondern auch der journalistischen Fehleinschätzung lieferte, ist heute milder. Er reibt sich jetzt am alten Feind mehr mit Storys über sein Privatleben: Wie die zweite Ehefrau Maike Richter, 48, die Familie der verstorbenen ersten vom Haus in Oggersheim fernhalte und Kohls Schwäche zur Manipulation seines Geschichtsbildes nutze.

Zweifel

Ernsthafter wird das in anderen Medien diskutiert. Es häufen sich die Fragen, ob Kohl bewusst zuließ, dass die Steuerung der Währungsunion und ihrer Risken Deutschland heute so zu entgleiten drohen. In der Scheckbuch-Politik, mit der alle deutschen Kanzler bis Merkel den Frieden in Europa zu sichern suchten, spiegle sich die unkonditionierte Aufgabe der D-Mark durch Kohl. Sein Geschichtsbild des befriedeten Europa sei damit nicht dauerhaft gesichert – und seines als großer Europäer noch nicht fertig, so die kritischeren Deuter.

Auf die hört heute die CDU natürlich nicht: Sie und Helmut Kohl genießen ihre neue, alte Vertrautheit.

So erlebten wir in Warschau mit Kohl den Fall der Berliner Mauer

Ein Journalistenkanzler war Helmut Kohl nie. Die Reporter hatten ihn zu oft beleidigt, als "Birne aus Oggersheim", der mit seinem pfälzischen Dialekt auch kluge Sätze allzu schlicht erscheinen ließ. Aber ein deutscher Kanzler braucht eben die Presse – und zumindest bei Auslandsreisen entwickelte sich eine Zweckgemeinschaft. Zu später Stunde, nach seinen Gesprächen lud der Kanzler zum Hintergrund. Wir Österreicher durften dabei sein, auch wenn wir sein "Ihr gehört ja dazu" nicht so gerne hörten.

So war es auch am Abend des 9. November 1989. Kohl hatte in Warschau mit dem Christdemokraten Mazowiecki die Veränderungen in Osteuropa besprochen und berichtete uns, als ein Mitarbeiter ihm zuflüsterte "Die Mauer ist offen." Keiner von uns hat damals die historische Dimension verstanden, aber Kohl wusste, dass er einen lange vorbereiteten Besuch zur weiteren Aussöhnung mit Polen nicht einfach abbrechen konnte, um nach Berlin zu fahren. Als erster deutscher Kanzler hatte er einen Besuch im KZ Warschau geplant.

Es war ein Journalist, der vorschlug, die Reise nur zu unterbrechen, was Kohl dann auch tat, um für ein paar Stunden ins offene Berlin zu fliegen.

Und so begann jener Teil seiner Kanzlerschaft, mit der er zum historischen Akteur, zum Kanzler der Einheit wurde.

Bei der Öffnung der Mauer Kanzler zu sein, das war Glück. Aber die Mächtigen der Welt von Bush bis Gorbatschow vertrauten Kohl, dass sich auch ein großes Deutschland friedlich verhalten werde. Der Historiker Kohl, der vor uns gerne dozierte, hatte im Zweiten Weltkrieg einen Bruder verloren. Für den Kanzler Kohl waren EU und politische Einbindung in den Westen Grundlage für Frieden und Freiheit.

Franz Josef Strauß, CSU-Chef und Kohls Gegenspieler ums Kanzleramt, hat im kleinen Kreis gerne gespottet, dass Kohl viel zur Hoffnung in deutschen Familien beitrage. "Wenn so einer Kanzler wird, dann schafft unser Sohn das Abitur."

Als Ministerpräsident stand Kohl für die Modernisierung der CDU, als Kanzler wurde er von rechts und links gleich verachtet – und unterschätzt. Jakob Augstein, Sohn des Spiegel-Gründers: "Kohl hat uns gelehrt, dass Intelligenz nichts mit Intellektualismus zu tun hat."

Kohl war so gerne in Österreich auf Urlaub, dass er mit der Topografie, aber auch unserer Politik gut vertraut war. "Ihr wisst schon, wer euch im Zweifel beschützt." Das sagte er zu uns Österreichern, als Mauer, Stacheldraht und Sowjetpanzer noch Realität waren. - Helmut Brandstätter


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