Geheimdienstexperte: "Volle Gewissheit wird es nie geben"

Geheimdienstexperte: "Volle Gewissheit wird es nie geben"
Erwartungen an Geheimdienste sind viel zu hoch. Attentate gänzlich verhindern zu können, sei unmöglich.

Alle hatten es geahnt, hatten Hinweise, dass in Frankreich ein großer Terroranschlag droht: US-Geheimdienste, die Paris vor rund zwei Wochen warnten, dass die Kommunikation zwischen IS-Kämpfern in Syrien und Adressen in Frankreich auffällig zugenommen habe. Und auch der irakische Geheimdienst hatte sich vor Kurzem in Frankreich gemeldet: 24 Personen würden sich auf einen großen Angriff in Paris vorbereiten, 19 davon für den Anschlag, die anderen fünf seien mit der dafür notwendigen Logistik und Planung beschäftigt.

Und natürlich Frankreichs Geheimdienste selbst. Nur zwei Tage vor den verheerenden Attentaten des vergangenen Freitags, die 132 Menschen das Leben kosteten, verkündete Frankreichs Innenminister Cazeneuve die rechtzeitige Verhaftung eines 25-jährigen Dschihadisten. Dieser hatte einen Anschlag auf eine militärische Einrichtung der Marine in Toulouse geplant. Und doch, so warnte Cazeneuve erneut, bleibe die Terrorgefahr in Frankreich hoch.

Keine 48 Stunden danach war es traurige Gewissheit – der schlimmste Terroranschlag auf französischem Boden seit dem Zweiten Weltkrieg. Geplant, organisiert und ausgeübt durch Anhänger des" Islamischen Staates" (IS).

Nahezu alle der Attentäter waren den französischen Behörden bekannt. Sie alle sind in den sogenannten "fiches s" (Akten S) zu finden – "s" steht in diesem Fall für surveillance – "Überwachung".

Haben Frankreichs Geheimdienste also versagt – indem sie zwar über Informationen über die Attentäter verfügten, die passenden Informationen aber nicht richtig zusammenfügten?

"Die französischen Dienste sind nicht schlecht", weist dies der Grazer Geheimdienstexperte und Historiker Siegfried Beer im KURIER-Gespräch zurück. Spätestens seit den Anschlägen auf Charlie Hebdo im Jänner arbeiteten die Dienste ständig auf höchster Stufe. Reformen wurden durchgeführt, das Personal aufgestockt, die Kooperation mit anderen Geheimdiensten intensiviert.

Strategiewechsel

Und dennoch konnten die Anschläge des 13. November nicht verhindert werden – ein Versagen der Franzosen, wie israelische Geheimdienstexperten aus der Ferne diagnostizierten: "Die französischen Geheimdienste haben offenbar nicht mitbekommen, dass die Terrormiliz ,Islamischer Staat‘ in den vergangenen Monaten ihre Strategie gewechselt hat", sagte ein israelischer Geheimdienstexperte der FAZ. Die Dienste hätten sich weiterhin auf "einsame Wölfe" als potenzielle Attentäter konzentriert, während der IS erstmals eine durchgeplante Großaktion durchgezogen habe.

Genaue Analyse

"Das ist möglicherweise ein berechtigter Vorwurf", gibt Beer zu bedenken, warnt aber vor vorschnellen Schlüssen. "Nach einer genauen Analyse wird man wissen, was schiefgelaufen ist. Und vor allem wird man herausfinden müssen, wie es den Attentätern gelungen ist, in ihrer Kommunikation aus dem Belauschungsfeld der Geheimdienste herauszukommen."

Volle Gewissheit, Attentate verhindern zu können, so Geheimdienstexperte Beer, "wird es nie geben. Da sind unsere Erwartungen viel zu hoch." Die Geheimdienste seien nicht in der Lage, jeden potenziellen Gefährder 24 Stunden lang über das ganze Jahr hindurch zu beobachten und zu belauschen. "Berechnungen haben ergeben: Für eine zu beobachtende Person wären 30 Sicherheitsleute notwendig." Bei 10.500 Personen, die in den französischen "Akten s" zu finden sind, wären dies 315.000 Geheimdienst-Bedienstete.

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