Gaza: 200.000 suchen Schutz

Die Angriffe am Dienstag forderten über 100 Todesopfer
Angst und Schrecken in Gaza: Massenflucht in UN-Unterkünfte. Verwirrspiel um Waffenruhe.

Nach den schlimmsten Bombardierungen seit Beginn der israelischen Militäroffensive im Gazastreifen machen sich zunehmend Panik und Verzweiflung in der Enklave breit. Immer mehr verängstigte Menschen versuchten, dem Inferno zu entrinnen. Sie flohen in eine von 85 UN-Einrichtungen, die als Notunterkünfte dienen.

Die Zahl der Schutzsuchenden gab der Sprecher des UN-Hilfswerks UNRWA, Chris Gunness, am Dienstagabend mit mehr als 200.000 an. Das waren fast 20.000 mehr als noch am Morgen.

Waffenruhe

Der militärische Arm der Hamas macht eine Zustimmung zu einer neuen Waffenruhe von einem Ende der israelischen Luftangriffe und der Blockade des Gazastreifens abhängig. Es werde keine Feuerpause geben "ohne ein Ende der Aggression und einer Aufhebung der Belagerung", erklärte am Dienstag der Chef der Essedin-al-Kassam-Brigade.

Die Vertreter der Hamas, der PLO und des Islamischen Jihad wollten am Dienstag Abend nach Kairo reisen um über eine Lösung des Konflikts zu beraten. Nach einer ersten Weigerung hatte die Hamas am Sonntagnachmittag eine 24-stündige Waffenruhe erklärt, die Israel jedoch nicht offiziell akzeptierte.

Angriffe am Dienstag

In der Nacht auf Dienstag verstärkte Israel dann seine Angriffe in dem schmalen Küstenstreifen, mindestens 40 Palästinenser wurden dabei getötet. Alleine im Norden des Gazastreifens sind nach einem Angriff mindestens 13 Palästinenser ums Leben gekommen. Der Sprecher der palästinensischen Rettungskräfte, Ashraf al-Kudra, sagte, israelische Panzergranaten hätten mehrere Häuser in der Stadt Jabalia getroffen. Alle Todesopfer seien Zivilisten gewesen. Israels Premier Benjamin Netanyahu hatte zuvor angekündigt, die Offensive erst einzustellen, wenn alle Tunnel der Hamas zerstört sind.

"Wir werden den Einsatz nicht beenden, bevor wir die Tunnel (der Hamas) zerstört haben."

Und: "Die israelischen Bürger können nicht unter der Bedrohung durch Raketen und Tunnel leben - unter Todesdrohung von oben und von unten", fügte er hinzu.

Gaza: 200.000 suchen Schutz
A Palestinian firefighter participates in efforts to put out a fire at Gaza's main power plant, which witnesses said was hit in Israeli shelling, in the central Gaza Strip July 29, 2014. Israeli tank fire hit the fuel depot of the Gaza Strip's only power plant on Tuesday, witnesses said, cutting electricity to Gaza City and many other parts of the Palestinian enclave of 1.8 million people.An Israeli military spokeswoman had no immediate comment and said she was checking the report. Israel launched its Gaza offensive on July 8, saying its aim was to halt rocket attacks by Hamas and its allies. REUTERS/Mohammed Salem (GAZA - Tags: POLITICS CIVIL UNREST ENERGY)

Bei dem nächtlichen Beschuss wurde auch das einzige Kraftwerk in dem Küstenstreifen getroffen. Die Anlage steht in Flammen (Foto oben) und ist seither außer Betrieb. Augenzeugen zufolge fiel der Strom aus, nachdem das Kraftwerk getroffen wurde. Die Anlage versorgt knapp ein Drittel der Haushalte im Gazastreifen mit Strom. Die Bewohner des Gebiets bekommen außerdem von Israel direkt Elektrizität, allerdings wurden nach Angaben des Behördenvertreters auch fünf der zehn Versorgungsleitungen jüngst durch Angriffe zerstört. Hier war es gleichfalls bisher unmöglich, in das Gebiet vorzudringen, um die Leitungen zu reparieren.

In Tel Aviv gab es am frühen Dienstagmorgen erstmals seit Freitag Luftalarm. In der Region Tel Aviv seien mehrere Explosionen zu hören gewesen, berichteten israelische Medien. Über Schäden war zunächst nichts bekannt. Auch in anderen Orten in Israel heulten die Sirenen.

Mehr als 1.100 Todesopfer

Seit dem Start der israelischen Militäroffensive am 8. Juli wurden mehr als 1.100 Palästinenser getötet, zum allergrößten Teil Zivilisten und zahlreiche Kinder. Auf israelischer Seite wurden mehr als 50 Soldaten und drei Zivilisten getötet.

Bei dem Beschuss des Al-Shifa-Krankenhauses im Gazastreifen, den sich Israelis und Palästinenser gegenseitig vorwerfen, waren am Montag mindestens drei Menschen getötet worden. Das Al-Shifa sei schon die vierte Gesundheitseinrichtung, die seit Beginn der Kämpfe Anfang Juli beschossen worden sei, teilte die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen am Dienstag mit. Gleichzeitig kritisierte der Leiter der Projekte der Organisation in den Palästinensergebieten, dass Krankenhäuser im Gazastreifen derzeit keine sicheren Orte seien.

Gaza: 200.000 suchen Schutz
epa04005148 Israeli Argentinian-born pianist and conductor Daniel Barenboim performs during the Vienna Philharmonic New Year's Concert 2014 at the Musikverein concert hall in Vienna, Austria, 01 January 2014. The traditional concert is staged every year on 01 January. EPA/HERBERT NEUBAUER

Auch Künstler meldeten sich zu Wort. Der Pianist und Dirigent Daniel Barenboim (Foto oben) äußerte sich zutiefst besorgt. "Alle Kriege gehen eines Tages zu Ende. Doch was wird in Israel und Palästina geschehen, wenn dieser Krieg vorbei ist? Den Hass wird keine politische Verhandlung beseitigen können", sagte der Maestro in der argentinischen Hauptstadt Buenos Aires.

In Spanien warfen mehr als einhundert Künstler, darunter die Hollywood-Stars Penelope Cruz und Javier Bardem, Israel Völkermord vor. In einem offenen Brief verlangen Schauspieler, Musiker, Schriftsteller und Kinoregisseure "einen sofortigen Waffenstillstand".

USA verstimmt wegen israelischer Kritik

Die USA haben außerdem verstimmt auf Israels Kritik an den Bemühungen von US-Außenminister John Kerry reagiert, eine Waffenruhe im Gaza-Konflikt zu vermitteln. Außenamtssprecherin Jen Psaki beklagte am Montag in Washington eine bewusste Desinformationskampagne aus Israel. "Aus unserer Sicht ist das einfach nicht die Art, wie Partner und Verbündete miteinander umgehen", sagte Psaki.

Israelische Medien hatten zuvor Missfallen bekundet, dass sich der US-Außenminister auch mit Vertretern von Katar und der Türkei getroffen hatte und damit angeblich das Gleichgewicht in den Gesprächen zugunsten der Hamas verändert habe.

Gerade die Verwirrung um eine Waffenruhe zwischen Israels Armee und der im Gazastreifen herrschenden militant-islamistischen Hamas zeigt nach drei Wochen Kampf klar die vielschichtige Entwicklung auf. Niemand weiß genau, wer gerade für die Hamas spricht, die sowohl militärisch wie auch politisch auftritt. Daher weiß auch auf der Gegenseite Israel niemals genau, mit welchen der vielen Hamas-Köpfen sie es gerade zu tun hat.

In den 1980er-Jahren bildete sich die Hamas als ein Ableger der ägyptischen Muslimbrüderschaft mit dem Aufbau eines sozialen Hilfswerks im Gazastreifen. 1987 mit Ausbruch der ersten Intifada-Revolte in den von Israel besetzten Gebieten kam es zur Entwicklung eines "militärischen" Arms.

Von Anfang an arbeitete der unabhängig von der politischen Führung, die ihr Sozialwerk zur Partei machte. Hinzu kam aber auch eine Auslandsführung, vor allem zur Finanzierung. Was ihr Einfluss auf die politische Struktur wie auch die Bewaffnung verschaffte.

Bald schon gab Hamas mit ihren Selbstmordattentaten den Ton im palästinensischen Terror an. Was wiederum 2006 zum Wahlsieg der Hamas-Partei führte. Seit damals muss die Bevölkerung Gazas mit einer von Israel kontrollierten Mindestversorgung auskommen. Die Hamas-Führung setzte alle an sie laufende Hilfsgelder, vor allem aus Syrien und Iran, in militärische Schlagkraft um.

Der "arabische Frühling" 2011 überraschte auch die Hamas. Durch den Aufstieg der Muslimbrüder in Ägypten hoffte sie auf neue Hilfe. Doch die Absetzung der Islamisten in Kairo und der Bürgerkrieg in Syrien schwächen die Hamas. Sie verliert Nachschubwege und Geldgeber. Noch radikalere Salafisten-Terroristen rivalisieren mit Hamas ideologisch und im Anspruch auf die Terror-Führung.

Da der Boykott auch die meisten Bankkanäle sperrt, wickelt die Hamas seit Jahren ihre Einnahmen wie Ausgaben großenteils mit Bargeld ab. Korruptionsvorwürfe, vor allem gegen die Auslandsführung, sind jetzt die Folge. Als diese von Damaskus nach Katar umzog, sollen Geldkoffer mit Millionen "verschwunden" sein.

Doch wird diese Schwäche in den gegenwärtigen Kämpfen im Gazastreifen noch nicht deutlich. Die Vorräte reichen noch für Monate. Auch Israels Armee weiß: Viele Angriffstunnel sind unentdeckt geblieben. Drei bestens ausgerüstete Bataillone sehen aus ihrer Bunker-Perspektive keinen zwingenden Grund zur Waffenruhe. Nicht so die politische Führung. Sie hat für Anfang 2015 in Neuwahlen eingewilligt. Ob es dazu aber tatsächlich kommt, ist fraglicher denn je.

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