EU will der Türkei 72.000 Flüchtlinge abnehmen

Gipfel soll Krise auf europäischer Ebene lösen. Mitgliedsstaaten sollen Flüchtlinge aber freiwillig aufnehmen.

Donnerstag und Freitag findet in Brüssel wieder ein hochrangiger Flüchtlingsgipfel statt. Vorab die wichtigsten Punkte:

  • Griechenland soll in der Flüchtlingskrise entlastet werden. Dazu soll es ein Abkommen geben zwischen Türkei und EU: Visafreiheit und Geld für die "1:1"-Vereinbarung. Für jeden zurückgenommenen Syrer soll einer legal in die EU einreisen dürfen. Die Vereinbarung ist wegen zahlreicher Bedenken umstritten.
  • Die EU-Spitzen wollen die weitere Einrichtung von Registrierzentren fordern.
  • Es werden sehr schwierige Verhandlungen erwartet, Zypern etwa stellt sich gegen ein Abkommen.
  • Menschenrechtsorganisationen kritisieren das Abkommen mit der Türkei scharf, sie sprechen von einem Tauschgeschäft.
  • Österreichs Vizekanzler Mitterlehner will eine Ausstiegsklausel für die Visabefreiung türkischer Staatsbürger.
  • Ein Acht-Punkte-Plan sieht vor, der Türkei zunächst 72.000 Flüchtlinge abzunehmen - die Mitgliedsländer sollen aber freiwillig aufnehmen.

Dieser Gipfel soll erstmals die Chance haben, die Flüchtlingskrise auf europäischer Ebene zu lösen und Schlepper zu bekämpfen. So sieht das zumindest die deutsche Bundesregierung. Deutschlands Bundeskanzlerin Angela Merkel ist dafür, Syrer direkt aus der Türkei in die EU zu holen. Doch viele EU-Staaten sind dagegen. Nun steht laut Informationen von Spiegel Online ein Acht-Punkte-Plan, nachdem die EU 72.000 Flüchtlinge aus der Türkei nehmen soll - die Aufnahme durch die Mitgliedsstaaten soll aber vollkommen freiwillig erfolgen. Laut Spiegel würden zunächst 18.000 syrische Flüchtlinge in der EU verteilt. Dafür werde ein seit Juli 2015 bestehender Beschluss der EU zur Umsiedlung herangezogen. Dazu kämen weitere 54.000 Flüchtlinge aus einem anderen Umsiedlungsprogramm von September. Wann diese Umsiedlung beginnen könnte ist unklar, auch was passiert, wenn der Zustrom nach Griechenland dennoch nicht abreißt.

Der Plan steht, die Absegnung nicht. ÖVP-Vizekanzler Reinhold Mitterlehner erwartet heute und am Freitag in Brüssel sehr schwierige Verhandlungen. Er hielt vor Beginn des Gipfels auch die Erwartungshaltung für überzogen. Mitterlehner forderte auch eine Ausstiegsklausel für die Visabefreiung türkischer Staatsbürger im Zuge des geplanten Flüchtlingsdeals. Dies sei notwendig, um einen Missbrauch der Visafreiheit zu verhindern, oder auch wenn das Flüchtlingsabkommen mit der Türkei nicht erfüllt werde.

Laut dem Gipfelentwurf will die EU der Türkei bis Ende Juni Visafreiheit in Aussicht stellen, wenn Ankara die Bedingungen dafür bis dahin erfüllt (Details siehe unten). Die Visafreiheit ist eine der zentralen Forderungen der Regierung in Ankara. Doch die Türkei hat bisher erst die Hälfte von 72 Vorgaben erfüllt. Dennoch gab sich EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker hat sich vor dem EU-Gipfel optimistisch für einen Deal. Juncker bekräftigte Donnerstagmittag auch die Notwendigkeit einer europäischen Lösung. Ohne Österreich namentlich zu nennen, sagte er, "nationale Alleingänge sind auf Dauer nicht zielführend".

FPÖ will Veto

Es gibt einige Mitgliedsstaaten, die die Möglichkeit eines verlässlichen Abkommens mit der Türkei zumindest anzweifeln, so wie Österreich. Die EU dürfe "nicht etwas über Bord werfen, was inhaltlich entscheidend ist", sagte Bundeskanzler Werner Faymann vor dem Gipfel. "Gerade bei Verhandlungen mit der Türkei ist es wichtig zu sagen: Da darf es keinen Abtausch geben". Der Kanzler bekräftigte einmal mehr die Notwendigkeit, dass die Balkanroute und andere illegale Routen geschlossen blieben. "Wenn Deutschland sagt, sie wollen Hunderttausende Flüchtlinge nehmen, dann ist das in Ordnung. Wir haben auch gesagt, wir nehmen 37.500, aber nicht auf illegalem Weg, nur mit legaler Einreise."

Der FPÖ-Delegationsleiter im EU-Parlament, Harald Vilimsky, fordert gar ein österreichisches Veto gegen den geplanten Türkei-Deal: "Die Gewährung der Visafreiheit für Türken wäre ein Signal an Hunderttausende Menschen muslimischen Glaubens, sich in Richtung Europa aufzumachen und ein Katalysator für die weitere Abschaffung des christlich geprägten Europas."

Rumänien etwa wollte auch von vornherein nicht zur Aufnahme von Flüchtlinge gezwungen werden. Zypern legt sich ohnehin quer - die Türkei erkennt die Insel nicht als Staat an.

"Tauschgeschäft"

Auch NGOs sorgen sich um den Einfluss, den die Türkei wegen der Vereinbarung nehmen kann. Amnesty International sprach am Mittwoch von einem "menschenverachtenden Tauschgeschäft". Der Direktor des deutschen Arms der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) sieht die EU hier "auf einem völlig falschen Weg". Wenzel Michalski sagte mit Hinweis auf die "immer schlimmere" Menschenrechtslage in der Türkei und die unsichere Situation der Flüchtlinge dort, besonders die Pläne für einen 1:1-Austausch von Flüchtlingen zwischen der EU und der Türkei seien "nicht ausgereift und sehr seltsam": "Wer garantiert, dass das nach Menschenrechtsmaßstäben abläuft?". Letztlich käme eine Rückführung von Flüchtlingen, die die EU bereits erreicht haben, in die Türkei einer "Massenabschiebung gleich - und die ist verboten".

Der EU-Gipfel am Donnerstag und Freitag will der Türkei eine Visabefreiung für türkische Staatsbürger "spätestens bis Ende Juni 2016" in Aussicht stellen. Der Fahrplan zur Visabefreiung soll entsprechend beschleunigt werden. Die Türkei müsse noch Schritte setzen, um alle verbleibenden Anforderungen zu erfüllen, heißt in dem Entwurf des EU-Türkei-Gipfels.

Dies soll es der EU-Kommission erlauben, bis Ende April einen entsprechenden Gesetzesvorschlag zu machen. Die Visabefreiung ab 1. Juni ist eine der türkischen Kernforderungen für den Deal mit der EU. Die EU-Kommission hat bereits am Mittwoch erklärt, dass sie Ende April einen Vorschlag vorlegen wird, wenn die Türkei alle Bedingungen erfüllt. Bisher habe die Türkei 35 "Benchmarks" von insgesamt 72 erfüllt, erklärte die EU-Kommission.

Eine konkrete zeitliche Zusage zur Beschleunigung der EU-Beitrittsverhandlungen ist in dem Gipfelentwurf nicht enthalten. "Die EU wird zusammen mit der Türkei so schnell wie möglich die Entscheidung zur Eröffnung neuer Kapiteln in den Beitrittsverhandlungen vorbereiten", heißt es in dem Entwurf.

Eine Frage des Geldes

Auch die Auszahlung zusätzlicher drei Milliarden Euro zu den bereits bewilligten drei Milliarden Euro zur Unterstützung von Flüchtlingen in der Türkei wird an Bedingungen geknüpft. Demnach wird die EU über zusätzliche Finanzmittel von bis zu weiteren drei Milliarden Euro bis Ende 2018 entscheiden, sobald die laufenden Ressourcen voll aufgebraucht sind, "für den Fall, dass die oben genannten Verpflichtungen die gewünschten Resultate bringen". Dies ist ein Hinweis auf die geplante Flüchtlingsvereinbarung.

Dazu will der Gipfel folgendes beschließen: "Alle neuen irregulären Migranten, die von der Türkei auf die griechischen Inseln kommen, werden in die Türkei zurückgeführt. Dies wird eine vorübergehende und außergewöhnliche Maßnahme sein, die notwendig ist, um das menschliche Leid zu beenden und die öffentliche Ordnung wiederherzustellen. Die Migranten, die auf den griechischen Inseln ankommen, werden pflichtgemäß registriert, und jeder Asylantrag wird von den griechischen Behörden in Einklang mit der Asylverfahrensrichtlinie abgewickelt. Migranten, die nicht um Asyl ansuchen, oder deren Antrag für unbegründet oder unzulässig nach der genannten Richtlinie befunden wurde, werden in die Türkei zurückgeführt."

Laut dem Entwurf werden die Türkei und Griechenland eine bilaterale Vereinbarung treffen, unter anderem zur Anwesenheit türkischer Beamter auf den griechischen Inseln, um den Deal praktisch abzuwickeln. Die Kosten werden von der EU getragen. Der Gipfel soll die Verpflichtung der Türkei begrüßen, "dass die in die Türkei zurückgeführten Migranten in Einklang mit internationalen Standards geschützt werden in Hinblick auf die Behandlung von Flüchtlingen und durch Achtung des Prinzips der Nicht-Zurückweisung. Griechenland hat zugestimmt, dass Migranten, die sich bereits auf den griechischen Inseln befinden, in Aufnahmezentren auf dem griechischen Festland überführt werden".

1:1-Regelung

"Für jeden Syrer, der in die Türkei von den griechischen Inseln zurückgeführt ist, wird ein anderer Syrer aus der Türkei in die EU angesiedelt", heißt es weiter. Dazu soll ein Mechanismus zwischen der Türkei und Griechenland mithilfe der EU-Kommission, der EU-Agenturen und anderer EU-Staaten sowie des UNHCR geschaffen werden. "Vorrang wird jenen Migranten gegeben, die noch nicht zuvor illegal in die EU eingereist sind oder dies versucht haben."

Aufseiten der EU wird das "Resettlement" syrischer Flüchtlinge zunächst durch Verpflichtungen der EU-Staaten im Rahmen des Programmes vom 22. Juli 2015 durchgeführt, bei dem noch 18.000 Plätze offen sind, heißt es in dem Entwurf weiter. Jeder weitere Bedarf soll durch ein gleichwertiges freiwilliges Arrangement durchgeführt werden bis zur Grenze von 54.000 Personen. Dabei handelt es sich um das ursprünglich für Ungarn vorgesehene, aber nicht verwendete Kontingent im Rahmen der EU-Umverteilung von 160.000 Flüchtlingen. Dazu soll der Umverteilungsbeschluss der EU entsprechend geändert werden. Übersteigt die Zahl der in die Türkei abgeschobenen Syrer auch dieses Kontingent, soll der Mechanismus erneut überprüft werden.

Nach Angaben der E/U-Kommission vom Mittwoch wurden bisher erst 937 Flüchtlinge umverteilt, davon 368 aus Italien und 569 aus Griechenland. Österreich hat bisher keine freien Plätze gemeldet. Im Rahmen des EU-"Resettlements" wurden 4.555 Flüchtlinge aus Drittländern angesiedelt, davon 1.395 aus Österreich. Nur Großbritannien hat mit 1.864 Flüchtlingen noch mehr über "Resettlement" aufgenommen.

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