EU will Militäreinsatz im Mittelmeer beschließen

Überlebende des jüngsten Flüchtlingsdramas im Mittelmeer.
Die Schlepperbanden sind Topthema beim Gipfel in Brüssel. Die Tragödie am Sonntag forderte 800 Menschenleben.

Pläne zur Zerstörung von Menschenschmuggler-Schiffen sollen eines der Topthemen beim EU-Sondergipfel zu den Flüchtlingskatastrophen im Mittelmeer werden. "Die Europäische Union hat nicht die Kompetenz, über Militäreinsätze zu entscheiden", sagte eine Sprecherin am Dienstag in Brüssel. Deswegen müsse es dazu am Donnerstag einen Beschluss der Staats- und Regierungschefs geben.

Die Vereinten Nationen gehen nach der Tragödie vom Sonntag von 800 Todesopfern aus. Der Sprecher der Internationalen Organisation für Migration (IOM), Flavio Di Giacomo, bestätigte diese Schätzung nach der wohl schlimmsten Flüchtlingskatastrophe im Mittelmeer.

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Ziel eines Militäreinsatzes soll es sein, Schlepperbanden die Ausübung ihres Geschäfts zu erschweren. Über Details könne man aber derzeit noch keine Angaben nennen, sagte die Sprecherin. Dazu gehöre neben der Mandatsproblematik auch die Frage, ob die Schiffe auf See oder an Land zerstört werden sollten.

Nach Angaben der EU-Kommission haben an der Küste Libyens operierende Menschenschmuggler bereits jetzt nicht genügend Schiffe, um die zu Tausenden ankommenden Flüchtlinge schnell wegzubringen. Eine Zerstörungsaktion könnte verhindern, dass noch mehr Menschen eine lebensgefährliche Fahrt über das Mittelmeer in Richtung Europa wagen.

Als Vorbild für eine mögliche Militäroperation hatte die EU-Kommission bereits am Montag den erfolgreichen Anti-Piraterie-Einsatz Atalanta am Horn von Afrika genannt. Dieser schützt vor allem zivile Schiffe vor der Küste Somalias. Erlaubt sind aber auch Militäreinsätze gegen an Stränden gelegene Piratenlager.

Suche nach Unglücksursache

Die Ursache der kürzlichen Katastrophe könnte möglicherweise in einem Zusammenstoß zwischen dem schwer beladenen Migrantenboot und einem portugiesischen Handelsschiff, das den Flüchtlingen helfen wollte, liegen. Das berichteten Überlebende den Vertretern des UN-Flüchtlingshochkommissariats UNHCR am Dienstag. Ein tunesischer Schlepper, der das Flüchtlingsboot steuerte, ist demnach versehentlich gegen das Handelsschiff "King Jacob" geprallt. Dies löste Panik an Bord des überfüllten Flüchtlingsbootes aus, das ins Schwanken geriet und umkippte. Der Kapitän des portugiesischen Schiffes hatte dagegen eine Kollision mit dem Flüchtlingsboot dementiert. Die Aussagen werden jetzt von der Staatsanwaltschaft von Palermo überprüft, die die Ursachen der neuen Flüchtlingstragödie ermittelt.

Festnahmen

27 Menschen kamen am Montagabend im Hafen von Catania an. Zwei von ihnen wurden umgehend festgenommen, weil sie zur Besatzung des Flüchtlingsschiffs gehört haben sollen. Es handle sich um den mutmaßlichen tunesischen Kapitän und einen Syrer, der ebenfalls der Besatzung angehört habe.

28 Überlebende

Das etwa 20 Meter lange Flüchtlingsschiff war rund 110 Kilometer vor der Küste Libyens und in rund 200 Kilometern Entfernung von der italienischen Insel Lampedusa gekentert. Nur 28 Menschen überlebten. 24 Todesopfer wurden bisher geborgen. Nach Angaben eines Überlebenden, der vor der Ankunft der übrigen Überlebenden in Catania ins Krankenhaus eingeliefert worden war, befanden sich sogar 950 Flüchtlinge an Bord, darunter 50 Kinder und 200 Frauen. Die Schlepper hätten viele von ihnen im Frachtraum eingesperrt.

Die Hoffnung, im Mittelmeer weitere Überlebende der Katastrophe zu finden, schwand am Montag. Ob das Schiff und die vermutlich Hunderten Leichen geborgen werden können, war unklar. Die Küstenwache erklärte, möglicherweise werde es keine Gewissheit über die Zahl der Toten geben, da das Mittelmeer an der Unglücksstelle sehr tief sei.

EU verdoppelt Fördermittel

Als Reaktion auf die jüngsten Flüchtlingskatastrophen im Mittelmeer will die Europäische Union die Seenothilfe massiv ausweiten. Bei einem Krisentreffen der Außen- und Innenminister am Montag in Luxemburg wurden Pläne für die Verdoppelung der Mittel für die EU-Programme Triton und Poseidon auf den Weg gebracht. Sie sollen den Einsatz von deutlich mehr Schiffen ermöglichen und noch am Donnerstag auf einem Sondergipfel der Staats- und Regierungschefs vorgelegt werden.

Neben der Ausweitung der Seenotrettung könnten künftig gezielt von Schleppern genutzte Schiffe beschlagnahmt und zerstört werden. Vorbild sei die militärische Anti-Piraterie-Mission Atalanta am Horn von Afrika, sagte der zuständige EU-Kommissar Dimitris Avramopoulos in Luxemburg bei der Vorstellung eines Zehn-Punkte-Plans. Atalanta begleitet nicht nur zivile Schiffe, sondern zerstörte mehrfach auch Piratenlager.

Die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini sagte, das Ansehen Europas stehe auf dem Spiel. Viel zu oft sei gesagt worden: "Nie wieder".

Mehr Entwicklungshilfe

ÖVP-Außenminister Sebastian Kurz hat eine Aufstockung der österreichischen Entwicklungszusammenarbeit (EZA) gefordert. Konkret will er beim Ministerrat heute den Vorschlag einbringen, den Auslandskatastrophenfonds von bisher fünf auf künftig 20 Millionen Euro aufzustocken, sagte Kurz gegenüber der APA.

Angesichts der Katastrophe fordert EU-Parlamentspräsident Martin Schulz mehr Möglichkeiten zur legalen Einwanderung und eine europäische Quotenregelung für die Aufnahme von Flüchtlingen.

Vor dem EU-Sondergipfel zur Flüchtlingskatastrophe im Mittelmeer fordert der deutsche Entwicklungsminister Gerd Müller von der EU ein Sofortprogramm im Volumen von zehn Milliarden Euro. Mit dem Geld müsse in den Fluchtländern ein Wirtschafts- und Stabilisierungsprogramm aufgelegt werden, sagte der CSU-Politiker der Saarbrücker Zeitung laut Vorab-Bericht aus der Dienstag-Ausgabe.

EU will Militäreinsatz im Mittelmeer beschließen

Zehntausende Flüchtlinge aus den Krisengebieten Afrikas und Vorderasiens warten an der Küste Libyens auf ihre "Chance". Sie wollen nach Europa, doch die Überfahrt über das Mittelmeer ist gefährlich, wie die jüngste Katastrophe vor Lampedusa erneut bewies. Warum nehmen diese Menschen das tödliche Risiko auf sich? Einige Fragen und Antworten zum Drama in den Gewässern zwischen Libyen und Italien:

Warum stechen die Boote gerade von Libyen aus in See?

Nach dem Sturz des Langzeit-Diktators Muammar al-Gaddafi 2011 ist das Land nach und nach im Chaos versunken. Es gibt keine funktionierende Regierung. Die Mittelmeerküste zieht sich über Hunderte Kilometer hin. Das Nachbarland Tunesien liegt wesentlich näher an Lampedusa, doch sind die Küsten dort viel besser bewacht.

Was erleichtert den Schleppern gerade in Libyen das Geschäft?

Im Land herrschen verschiedene Milizen, die sich nebenbei im einträglichen Schlepper-Geschäft verdingen. Flüchtlinge aus dem Inneren Afrikas sind auf ihre Dienste bereits angewiesen, wenn sie die große Libysche Wüste durchqueren wollen, die auf ihrem Weg zur Mittelmeerküste liegt.

Was kostet so eine Überfahrt mit ungewissem Ausgang?

Quellen in Libyen sprechen von einem Preis zwischen 500 und 1000 Euro pro Person. Es ist ein schmutziges Geschäft, nicht nur wegen der bedingt seetauglichen Schiffe, auf die die Fluchtwilligen gepackt werden. Oft zwingen sie die geldgierigen Milizionäre mit brutaler Gewalt auf die Schiffe, wie der Italien-Chef von Amnesty International, Gianni Rufini, bestätigte. Aber auch die unmenschlichen Zustände in den libyschen Auffanglagern veranlassen viele Flüchtlinge, sich auf die gefährliche Überfahrt einzulassen.

Aus welchen Ländern kommen die Migranten, weshalb verlassen sie ihre Heimat?

Im Vorjahr stand unter den Herkunftsländern Syrien an erster Stelle, gefolgt von Eritrea und verschiedenen Ländern Schwarzafrikas. In Syrien fliehen die Menschen vor einem mörderischen Bürgerkrieg mit bisher mehr als 200.000 Toten. In Afrika treiben Hunger, Dürren, chaotische Verhältnisse und islamistische Terrormilizen wie die nigerianische Boko Haram die Menschen massenhaft in die Flucht.

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