Fritz Orter über das Leben ohne seine Frau

Orter: „Wenn man 30 Jahre von einem Krisenherd zum anderen hetzt, bleibt die Frage: Was habe ich verändert?“
"Ich weiß nicht, warum ich noch lebe" heißt das neue Buch des früheren Kriegsreporters. Der Titel spiegelt zwei Aspekte wider: einerseits das Überleben an den Krisenherden der Welt, andererseits die Sinnsuche nach dem Tod seiner Frau.

Als Treffpunkt wählt der langjährige ORF-Reporter das Hotel Marriott. Nicht ohne Hintergedanken: "Als ich in Pakistan im Marriott einquartiert war, ist es am nächsten Tag durch einen Taliban-Angriff in die Luft geflogen. Hier hingegen sind so viele Araber und Russen, da denke ich immer: Das werden sie nie in die Luft sprengen. Da sind wir sicher." Ein Gespräch über Friedrich Orters soeben bei Ecowin erschienenes Buch "Ich weiß nicht, warum ich noch lebe".

KURIER: Sie kommen gerade aus dem Ausland. Verraten Sie, wo Sie waren?
Friedrich Orter: Auf Mallorca. Unter den Pensionisten. Diesmal wirklich zur Entspannung.

Orter liegt am Strand …
… und liest Bücher über die arabische Welt. Ich kann nie abschalten.

2012 haben Sie gesagt: "Ich höre auf. Ich kann das nicht mehr." Kurz darauf waren Sie wieder in Syrien. Warum?
Das ist wohl ein journalistischer Instinkt. Ich habe damals aber erkannt, dass es das letzte Mal war. Als Freelancer bist du dort Freiwild.

Fritz Orter über das Leben ohne seine Frau
Bagdad Mai 2004, am Schauplatz eines Anschlags der Al-Kaida, Al-Quaida
Hat sich nicht nur Ihre Position verändert, sondern auch der Krieg selbst?
Ja, Krieg wird heute mit Drohnen geführt, mit Cyberattacken. Aber die archaische Kriegsführung, die wir dort sehen, zeigt ein Paradox: Obwohl der Westen dem IS technologisch überlegen ist, gelingt es nicht, dessen Truppen auszuschalten.

Wieso?
Diejenigen, die Kobane verteidigen, sind maßlos unterlegen, haben kein schweres Gerät, keine Artillerie. Die IS-Banditen hingegen haben die gesamten erbeuteten Waffen der irakischen Armee, alles, was die Amerikaner den Irakern gegeben haben.

Wieso gelingt es nicht, diese Waffen mit den Luftangriffen auszuschalten?
Die IS-Terroristen sind schlau, sie verstecken alles im besiedelten Gebiet. Bei den Angriffen kommen Zivilisten ums Leben, und dann sympathisieren die Überlebenden mit denen, die vorgeben, sie zu schützen.

US-Vizepräsident Joe Biden sagte dieser Tage: "Wir sind am Lenkrad!"
Das haben die Amerikaner immer geglaubt. Aber sie sind am Lenkrad, um davonzufahren.

Heißt das, man muss sich auf lange Kämpfe einstellen?
Auf jahrelange Guerillakriege. Die türkische Armee schaut bei der Schlacht um Kobane zu und spielt ein Doppelspiel. Sie unterstützt seit drei Jahren alle Rebellengruppen, um Assad zu stürzen und andererseits die Kurden in Schach zu halten.

Fritz Orter über das Leben ohne seine Frau
August 2006, im Libanon Krieg mit Kameramann Akram
In Ihrem Buch schildern Sie Szenen aus dem Krieg, die kaum erträglich sind. Fällt es Ihnen leichter, Emotionen aufzuschreiben, als darüber zu sprechen?
Was ich mit dem Buch versucht habe, war ein Freischreiben. Es hatte sehr persönliche Gründe. Ich musste das einmal loswerden. Ich bin 30 Jahre von einem Krisenherd zum anderen gehetzt, letztlich bleibt die Frage: Was habe ich verändert? Nichts.

Ist das Freischreiben, von dem Sie sprechen, ein Aufarbeiten des Erlebten?
Jetzt, wo ich nicht mehr dort bin, beginne ich erst, das zu verarbeiten. Als ich aktiv war, habe ich nie davon geträumt. Jetzt träume ich von Leichenbergen. Ich könnte sagen: Das sind die berühmten posttraumatischen Belastungsstörungen.

Sie "könnten" das sagen?
Ja, aber so schlimm ist es nicht. Ich brauche keinen Psychiater.

Blendet der Verstand das Grauen einfach aus, solange man mitten drin ist?
Was keiner begriffen hat, war, dass für mich normal war, was für andere längst abnormal ist. Wenn man lange und oft in solchen Gegenden unterwegs ist und Kontakt zu den Überlebenden hat, beginnt man, mit ihnen mitzufühlen, mitzuhandeln. Dadurch war es für mich immer normale Gegenwart. Rückblickend war es natürlich Irrsinn. Ich habe mehr Glück als Verstand gehabt.

Ihr Anspruch als Reporter war ja …
… etwas besser zu hinterlassen. Das ist, glaube ich, nicht gelungen.

Fritz Orter über das Leben ohne seine Frau
© Privat/ eigentlich Photo Sturm (Rainerstrasse 2, 5020 Salzburg, www.foto-sturm.at)
Die wichtigste Stelle im Buch ist?
Die Widmung an meine Frau.

War der Tod Ihrer Frau wirklich der Hauptgrund, als Reporter aufzuhören?
Ja, so banal das klingt. Es ist, was es ist. Und damit muss man sich zurechtfinden … oder auch nicht.

Haben Sie dadurch etwas gelernt, von dem Sie sagen: "So geht trauern"?
Es gibt nur zwei Möglichkeiten: Entweder man geht zugrunde, oder man fängt noch mal neu an. Ich habe mich fürs Letztere entschieden.

Wie funktioniert so ein Neubeginn?
Es ist ein Auf und Ab. Für mich war es die größte Tragödie meines Lebens, obwohl ich Tausende habe verrecken sehen. Die eigene Frau sterben zu sehen, ist etwas anderes. Bei den letzten Reisen für den ORF nach Syrien habe ich bemerkt: Ich werde schlecht. Ich war im Kopf woanders. Wenn ich Leichen gefilmt habe, habe ich meine Frau gesehen.

Sie waren 63, sind in Pension gegangen, wollten aber nicht "Pensionist" genannt werden. Warum?
Ein Journalist, so meine These, bleibt man bis zum letzten Seufzer. Aber was jetzt wegfällt, ist der Stress. Ich würde heute nicht mehr für 30 Sekunden "Zeit im Bild" irgendwo da draußen mein Leben riskieren.

Beklemmend fand ich im Buch die Stelle, an der Sie eine irakische Christin treffen, die nach Syrien geflohen ist und die der Krieg dort eingeholt hat.
Ja, die sagte zu mir: "Soll ich jetzt noch woanders hingehen? Der Tod ist überall gleich." Diese Frau hat mich sehr berührt. Sie hatte doch irgendwie recht, oder?

Ist der Tod tatsächlich überall gleich?
Im Krieg in Sarajewo war ich in diesem berühmten Holiday Inn einquartiert. Es lag an einer Kreuzung, und die Scharfschützen haben dort auf die Leute hinuntergeschossen. Die sind umgefallen wie die Fliegen. Einmal hab ich einen gefragt: "Wie kannst du da über die Straße gehen?" Er sagte: "Was soll’s? Entweder er trifft mich, oder er trifft mich nicht."

Woher kommt dieser Fatalismus?
Du bist hilflos, du kannst es nicht ändern, und dann wirst du gleichgültig. Für mich war das immer der Punkt, an dem ich gesagt habe: "Jetzt muss ich weg."

Woran haben Sie das bemerkt?
Ich habe mich immer an die Faustregel gehalten: Wenn dich Einheimische an die Front bringen und sagen "Hier darfst du nicht weitergehen", bleibst du stehen. Und dann kam manchmal der Kick: "Warum eigentlich nicht?" Da habe ich gewusst: Es ist Zeit, die Heimreise anzutreten. Man weiß, dass jedes Leben zu Ende geht, auch das eigene. Aber beschleunigen sollte man es nicht.

Fritz Orter über das Leben ohne seine Frau
Bagdad Mai 2004, vor Saddam Hussein zerstörten Panzern
Das wollten Sie Ihrer Frau nicht antun?
Ich habe ihr immer versprochen, dass ich lebend zurückkomme.

Haben Sie zum Abschied tatsächlich immer ,Fare thee well my own true love‘ gesungen, wie Sie im Buch erzählen?
Ja, das war unser Ritual, das müssen Sie sich vorstellen …

Das kann ich mir nicht vorstellen, ich habe Sie im Fernsehen immer nur sprechen, nie singen gehört.
Aber unser Haushalt war ein sehr musikalisch-lustiger. Meine Frau war von ihrer Ausbildung her Sängerin. Ich bin nicht nur der, als den mich manche eingeschätzt haben: der emotionslose Grantscherben, der mit Grabesstimme aus dem Krieg berichtet. Jeder Mensch hat zwei Seiten, mindestens.

Wie viele haben Sie?
Mehrere, glaub’ ich, auch ein paar dunkle vermutlich.

Sie schreiben, Ihre Arbeit habe Sie für immer verändert. Inwiefern?
Die Wertvorstellungen haben sich verändert. All das, was man heute so selbstverständlich haben muss, wird bedeutungslos, wenn man gesehen hat, dass andere nichts haben. Ein Auto, zwei Autos, ein Haus, zwei Häuser: der sinnlose Materialismus interessiert mich nicht.

Mit wie wenig kommen Sie aus?
Was ich brauche, sind meine Bücher und ein paar CDs, ein frisches Hemd vielleicht noch jeden Tag.

Musik hatten Sie immer bei sich.
Damit hab’ ich mir meine Welt erhalten. Stellen Sie sich vor, Sie liegen in einem Keller, rundherum wird geschossen, und Sie hören Mozart.

Was bewirkt das?
Die Überlegung, dass die Menschheit doch nicht nur aus Idioten besteht, die sich gegenseitig umbringen, sondern dass es auch ein paar Kreative gab und gibt, die etwas schaffen, das bleibt.

Fritz Orter über das Leben ohne seine Frau
Buch, Cover, Autor, Fritz Orter, Ich weiss nicht, warum ich noch lebe, ECOWIN Verlag
Sie stellen am Anfang des Buchs die Frage: "Ist es Voyeurismus, Empathie oder der Wunsch, von Fremden zu lernen?" Wissen Sie heute die Antwort?
Es ist der Wunsch, von Fremden zu lernen. Für mich war jedes Land eine Bereicherung. Mir blutet das Herz, wenn ich sehe, was in Aleppo passiert oder wie die Kulturgüter zerstört werden, auch im Irak. Der Irak war für mich immer Mesopotamien, das Land der Bibel, Babylon. Jetzt ist alles kaputt. (Lange Pause) Der Tex Rubinowitz hat eine Karikatur über mich gemacht, die haben mir meine Kollegen zum Abschied geschenkt, mit dem Satz: "Orter berichtet: ,Das Experiment Mensch ist in die Hose gegangen, summa summarum.‘"

Kann Orter das heute so bestätigen?
Ich beginne mehr und mehr, daran zu glauben.

Welche Frage, die ich nicht gestellt habe, möchten Sie noch beantworten?
"Schreiben Sie wieder an einem Buch?"

Schreiben Sie?
Ja. Es wird diesmal etwas ganz anderes. Mehr sage ich noch nicht.

Werden Sie auch Lesungen halten?
Das gehört doch dazu. Eigentlich ist es absurd: Ich war in 86 Ländern, aber noch nie in Bad Schallerbach. Dort werde ich heuer lesen.

Wo auf der Welt haben Sie Freunde?
In den Kriegsgebieten. Das Phänomenale dabei: Es ist Krieg, alles zerstört, aber eMail funktioniert.

Sind Sie in Kontakt?
Ja, mit meinen Producern in Kabul, Bagdad, Kairo, die laden mich immer ein: "Komm endlich, es gibt so viele tolle Geschichten."

Aber Sie bleiben beim Nein?
Im Alter wird man bequemer. Ich muss heute nicht mehr mit einem Rucksack irgendwo am Hindukusch liegen. Das hatte ich schon. Aber es war wirklich wunderbar.

Was war das Wunderbare?
Es war der schönste Sternenhimmel, den ich je gesehen habe. Aber plötzlich denke ich: "Träume ich? Bewegen sich die Sterne hinunter Richtung Kabul?" Es waren nicht die Sterne. Es waren die Tomahawk-Raketen der Amerikaner.

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