"Erdogan hat den Kurden den Krieg erklärt"

Sebahat Tuncel sieht Erdogan als mitverantwortlich für die Flüchtlingsströme nach Europa
Kurdische Ex-Abgeordnete Tuncel über die Lage im Land, die kommenden Wahlen und Ex-PKK-Chef Öcalan.

Die ehemalige kurdische Parlamentsmandatarin Sebahat Tuncel lässt kein gutes Haar an Tayyip Erdogan und erhebt schwere Anschuldigungen gegen den türkischen Präsidenten. Dieser "hat den Kurden im Land den Krieg erklärt". 20.000 Polizisten und Soldaten seien derzeit im Einsatz gegen ihre Bevölkerungsgruppe, sagt die Aktivistin im KURIER-Interview. Leichen getöteter Männer würden hinter Panzern hergeschleift. Zudem seien seit 20. Juli 3000 Kurden festgenommen worden, darunter Abgeordnete der Kurdenpartei HDP sowie deren Sympathisanten.

Die Folge dieses Kesseltreibens: Es sei eine total vergiftete Stimmung entstanden, die "Brücken zwischen Kurden und Türken wurden abgebrochen", analysiert Tuncel, die auf Einladung der entwicklungspolitischen NGO VIDC in Wien war. 400 HDP-Büros seien angegriffen und teilweise zerstört worden, kurdische Geschäfte und Wohnhäuser ebenfalls.

Bürgerkrieg-Szenario

"Dass es nicht zu einem Bürgerkrieg kommt, ist der Zurückhaltung der Kurden zu verdanken. Denn eine interne Gewalteskalation – das ist es, was Erdogan will", meint die Politikerin. Ihn macht sie in letzter Konsequenz auch für den jüngsten, vermutlich islamistischen Anschlag in Ankara mit mehr als 100 Toten (darunter auch viele Kurden) verantwortlich. Der Präsident habe Dschihadisten in Syrien unterstützt, um die dort etablierte autonome Kurden-Verwaltung zu schwächen.

Dass Erdogan nun von Europa in der Flüchtlingskrise gleichsam hofiert werde – am Sonntag war die deutsche Kanzlerin Angela Merkel in der Türkei –, verärgert Tuncel. Denn dieser habe durch sein Zündeln in Syrien die Migrationswellen mitverursacht. Und jetzt benutze der Staatschef die Flüchtlinge als Druckmittel, um Geld von der EU zu bekommen. "Doch niemand weiß, wohin die Mittel wirklich fließen. Wir gehen davon aus, dass (Erdogans) AKP das Geld für ihre politischen Anliegen einsetzt", so die Kurdin.

Von der Parlamentswahl am 1. November erwartet sie sich wenig Veränderung. Keine Partei werde die absolute Mandatsmehrheit erringen, die HDP sogar gestärkt in die Volksvertretung einziehen – weil immer mehr Gruppen die HDP als Gegenkraft zur regierenden AKP ansähen.

Für den Versöhnungsprozess mit den Kurden fordert Tuncel: "Gespräche mit (dem Ex-Chef der Kurden-Guerilla PKK) Öcalan müssen wieder aufgenommen werden, die EU soll diesen Prozess dadurch unterstützen, indem sie die PKK von der Liste der Terrororganisationen streicht."

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