Eine Mission, die nur Angela Merkel kann

Merkel traf auf Obama.
Die heimliche Präsidentin Europas läuft einen beispiellosen Verhandlungsmarathon.

Die innigsten Freunde sind sie nicht – Angela Merkel und Barack Obama. Doch keinem europäischen Staats- oder Regierungschef vertraut der US-Präsident mehr als der deutschen Kanzlerin. Und niemandem traut er mehr zu, die Krise in der Ostukraine vielleicht doch noch zu entschärfen, ehe die Lage in einen offenen Krieg mit Russland zu münden droht.

90 Minuten saß Merkel gestern mit dem mächtigsten Mann der Welt in dessen Büro, dem „Oval Office“, zusammen. Eineinhalb Stunden, in denen die Krisenmanagerin Merkel den US-Präsidenten vor allem in einem überzeugen wollte: keine amerikanischen Lieferungen schwerer Waffen an die Ukraine. Auch dann nicht, wenn der geplante Vierergipfel Merkel/Hollande/Putin/Poroschenko am Mittwoch in Minsk scheitern oder erst gar nicht stattfinden sollte.

Merkel und Obama dutzten einander demonstrativ bei der gemeinsamen Pressekonferenz. Und sie betonen die Einheit ihrer Positionen. Die Unterschiede liegen im Detail.

Bei der gemeinsamen Pressekonferenz Merkels und Obamas betonte Obama denn auch, dass er eine diplomatische Lösung anstrebe, dass er aber auch andere Optionen prüfen ließe – und eine dieser Optionen sei die Lieferung tödlicher Waffen an die Ukraine. Eine Entscheidung habe er nicht getroffen, so Obama. Worin sich Merkel und Obama durchwegs einig waren, ist der Umstand, dass Russland internationales Recht durch die Annektion der Krim und die Unterstützung der Separatisten in der Ostukraine gebrochen habe – und, dass eine diplomatische Lösung der Krise absolute Priorität habe. Obama betonte demonstrativ seine Unterstützung Merkels bei ihren diplomatischen Bemühungen.

Merkel verwies auf das Prinzip der territorialen Integrität, dass die europäischen Staaten unter keinen Umständen aufgeben dürften. „Wenn wir dieses Prinzip aufgeben, wird es uns nicht gelingen, Friede auf dem Kontinent aufrecht zu erhalten“, sagte Merkel. Russland, so Merkel, habe mit diesem Prinzip gebrochen. Es besteht also Einigkeit was Sanktionen angeht (beide drohten mit einer Verschärfung) – aber sollten die Verhandlungen in Minsk scheitern, gibt es wenig Einigkeit, was danach geschehen soll.

Denn anders als in Westeuropa tönt es in Washington quer durch alle Parteien: „Die Ukraine muss das Recht haben, sich selbst zu verteidigen.“ Republikanische Abgeordnete drängen sogar offen: Die USA müssen die ukrainische Armee aufrüsten.

Aber Merkel hat einen, wenn auch sehr kleinen Trumpf: Im Gegensatz zu Obama hat sie einen Draht zu Putin. Ihre Geduld, ihr eisenharter Verhandlungswille und ihre unaufgeregte Sachkompetenz machen sie für Putin ebenso zur Ansprechpartnerin wie ihr Beharren auf eine Verhandlungslösung.

Zögerlichkeit

wird der 60-jährigen Top-Politikerin oft vorgeworfen; quälend lange Entscheidungsfindung, bis die studierte Naturwissenschaftlerin alle Für und Wider abgewogen hat. Doch seit vergangener Woche zeigt sie Führungsstärke wie selten zuvor. Jede protokollarische Zurückhaltung warf Merkel über Bord, als klar wurde, dass sich die Krise in der Ostukraine zu einem Krieg auszuwachsen droht.

Ohne diplomatisches Sicherheitsnetz, ohne garantierte Erfolgsaussichten, warf sich die heimliche Präsidentin Europas in einen Verhandlungsmarathon geworfen: Gespräche in Kiew, Moskau, München, Washington, Minsk und Brüssel binnen sieben Tagen. Meist mit an ihrer Seite ist dabei Frankreichs Präsident Hollande – ein kluges Signal an alle, die befürchten, Berlin könnte wieder die Handlungsgewalt in Europa allein an sich reißen.

Eine diplomatische Tour-de-Force. „Ich bin hundertprozentig überzeugt, dass wir am Ende siegen werden und erfolgreich sind“, hatte Merkel bei der Sicherheitskonferenz in München gesagt – und heftigem Applaus ihrer Zuhörer geerntet.

Eine Mission, die nur Angela Merkel kann

Angela Merkel hat schon viele abgebrühte Politprofis allein mit ihrer Kondition beeindruckt. Ihre Konzentration und Ausdauer auf EU-Gipfeln sind legendär. „Merkel verfügt über eine Angst einflößende Kondition“, bewunderte sie nicht nur die deutsche Presse zu ihrem 60. Geburtstag im Vorjahr. Doch was sie jetzt leistet, dagegen waren Neujahrsansprachen mit Grippe, ein Wochenendtrip nach Chile mit anschließendem CDU-Präsidium in Berlin oder die Eröffnung der Hannover-Messe nur drei Tage nach einer Knie-Operation Kleinigkeiten.

Dass selbst sie seit einigen Monaten am Rande der Belastungsfähigkeit ist, verriet kurz vor dem CDU-Parteitag im Dezember ein Schwächeanfall während eines TV-Interviews. Nach etwas Trinken und Essen ging es dort aber für sie weiter fast bis Mitternacht. Und vor zwei Wochen berichtete Bild einen Ausspruch von ihr zu Vertrauten: Sie wisse nicht mehr, wo ihr der Kopf stehe, zitierte sie angesichts der Krisenszenarien und ihrer führenden Rolle darin der Online-Dienst.

Die Strapazen dieser Tage sind für Merkel aber anders als für Normalbürger. Im Kanzler-Airbus kann sie natürlich bequem schlafen und duschen. An Bord sind ein Arzt, manchmal auch ihre Kosmetikerin und Friseurin. Aber dafür ist der Flieger auch zugleich Arbeitsplatz für sie und ihre Berater mit Besprechungen, Telefonaten und Akten en suite. Und meist auch Presseleuten, die gebrieft werden wollen.

„Guter Schlaf“

Merkels wichtigstes Konditions-Geheimnis scheint erholsamer Schlaf zu sein. In einem Interview verriet sie, dass sie „einfach gut abschalten“ könne, und das am besten im eigenen Bett zu Hause. Wohl auch deshalb kehrt sie auf Dienstreisen wenn irgendmöglich lieber sehr spät nach Berlin zurück, als eine Nacht auswärts zu schlafen.

Was ihr fehle, nicht nur in langen Stress-Situationen, erzählte Merkel einmal, sei frische Luft und Bewegung. Die holt sie sich manchmal im Wochenendhaus in Brandenburg. Die letzten Monate gaben ihr aber kaum Gelegenheit dazu, die Krisen verkürzten sogar ihren Weihnachtsurlaub in der Schweiz.

Aus der Nähe sieht man das der Kanzlerin auch immer öfter an. Aber wie fast alle Spitzenpolitiker verfügt Merkel über eine eiserne Gesundheit – und Disziplin. Das gilt auch für ihre Konzentration, die derzeit 18 Stunden täglich voll gefordert ist.

Dass der Gesprächs- und Reise-Marathon dieser Tage sich trotzdem nachteilig auswirkt, macht aber in Berlin doch einige Sorgen: Auch beim vorläufigen Schlusspunkt, dem EU-Gipfel in Brüssel am Donnerstag, geht es um vitale deutsche Interessen. Und der sicherlich müderen Merkel als sonst droht da wachsender Widerstand gegen ihren Spar- und Reformwillen, ihrer Bedingung für viele deutsche Krisen-Hilfen.

Während auf politischer Ebene fieberhaft nach Wegen gesucht wird, wie der Westen mit Russland und der Ukraine umgehen soll, schaffen die Kämpfer Fakten. Am Montag meldeten die prorussischen Separatisten, sie hätten die ukrainische Armee in Debalzewo, einem strategischen Eisenbahnknoten, eingekesselt. Ein wichtiger Erfolg, der aus Sicht Kiews nur mit Hilfe Russlands möglich war. Erst am Wochenende, als Politiker aus West und Ost in München die immer gleichen Vorwürfe austauschten, sind laut Kiew rund 1500 russische Soldaten in die Ukraine vorgedrungen – mit militärischer Ausrüstung wie Raketensystemen.

Knackpunkte für Minsk

Seit Wochen erobern die prorussischen Separatisten Stück um Stück des umkämpften Gebietes in der Ostukraine. Allein seit dem Abkommen von Minsk Anfang September haben sie etwa tausend Quadratkilometer an Terrain dazugewonnen (siehe Karten-Vergleich oben). Und eben diese neuen „Besitzverhältnisse“ will Kremlchef Putin in einem neuen Waffenstillstandsabkommen festgeschrieben sehen. Das ist einer der Knackpunkte für die Verhandlungen am Mittwoch in Minsk. Mit der Festlegung der Waffenstillstandslinie kann auch die Pufferzone definiert werden, aus der schwere Waffen abgezogen werden müssen.

Schwierig wird auch die Frage, in welchen Grenzen eine weitgehende Autonomie gelten soll – falls Putin diesen Sonderstatus nicht gar für die gesamte Ostukraine beansprucht. Wobei dann die geografische Abgrenzung des Gebietes mit mehrheitlich russischstämmiger Bevölkerung alles andere als einfach wäre. Eines muss aus Sicht Kiews und der EU aber wohl klar sein: Die Gebiete sind und bleiben bei der Ukraine. Ob sich Putin formal damit zufrieden gibt, so lange er dort de facto das Sagen hat, ist fraglich.

Bleibt als einer der heikelsten Punkte die Kontrolle der ukrainisch-russischen Grenze. Putin will keinesfalls ausländische Sicherheitsexperten – auch nicht von der OSZE, wie angedacht – an seiner Landesgrenze. Offiziell, um Spionage zu verhindern. De facto geht es wohl vielmehr darum, dass Russland keine Waffen und Soldaten in die Ukraine schicken könnte, was nach westlichen Militärs laufend passiert.

Nur mit zaghaften Schritten nähert sich die EU schärferen Sanktionen gegenüber Russland: Die Außenminister der EU-28 beschlossen gestern in Brüssel zwar, 19 weitere Personen und neun Unternehmen auf die „schwarze Liste“ jener zu setzen, die von Einreise- und Konto-Sperren betroffen sind. Der Beschluss tritt aber erst nächsten Montag in Kraft – und sollte der Friedensgipfel am Mittwoch in Minsk Ergebnisse bringen, dann könnten die Minister ihn wieder zurücknehmen.

„Wir wollten keine Beschlüsse setzen, die die Verhandlungen gefährden könnten“, sagte Außenminister Sebastian Kurz. Offenbar gab es auch eine diesbezügliche Bitte aus der Ukraine, das Minsker Treffen nicht durch eine Verschärfung der Sanktionen zu beeinträchtigen.

Wie bewertet Kurz die Erfolgschancen des Friedensgipfels? Die Initiative von Berlin und Paris gebe Grund zur Hoffnung „nach einer langen Durststrecke ohne Hoffnungsschimmer“. Russlands Märkte wetten bereits auf eine Lösung des Ukraine-Konflikts, was die Aktienkurse antreibt. Der Moskauer Leitindex gewann in der Spitze 6,7 Prozent auf ein Zwei-Monats-Hoch von 882 Punkte. Der Dollar verlor um bis zu drei Prozent auf 65,11 Rubel.

Am Rande des EU-Ministerrates wurden auch mögliche Waffenlieferungen an die Ukraine debattiert. Während etwa Litauens Außenminister Linkevicius von einem „logischen Schritt“ sprach, „weil man der russischen Führung kein einziges Wort glauben kann“, bekräftigte Kurz seine Ablehnung: „Waffenlieferungen würden zu einer Eskalation führen, wir brauchen aber Deeskalation.“ Er glaube auch nicht, dass man so Moskau bremsen könne: „Mehr Waffen werden Putin nicht in die Knie zwingen.“

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