Dutzende Tote in Odessa

Brennendes Gewerkschaftsgebäude in Odessa
Erstmals gibt es Auseinandersetzungen in der Millionenstadt. Kiew hat außerdem eine massive Militär-Operation gegen die pro-russischen Separatisten im Osten gestartet.

Nach der Zerreißprobe im ukrainischen Osten hat die brandgefährliche Krise nun erstmals auch den Süden des Landes erfasst. Im bisher weitgehend ruhig gebliebenen Odessa gerieten am Freitagabend bei stundenlangen, blutigen Straßenschlachten pro-russische Separatisten und Anhängern der ukrainischen Regierung aneinander. Als pro-russische Demonstranten vor den Krawallen in ein Gewerkschaftsgebäude flüchteten, wurde dieses von einem tobenden Mob draußen in Brand gesteckt. Der britische Guardian berichtet, dass mindestens 31 Menschen laut ukrainischem Innenministerium darin umgekommen sein dürften, die meisten erstickten an den Rauchgasen, mehrere Menschen sprangen in den Tod. Zuvor war das Innenministerium von 38 Toten ausgegangen. Es gab über 200 Verletzte.

Die Behörden der Stadt verhängten eine dreitägige Trauer. Die ehemalige Regierungschefin Julia Timoschenko reiste in die Hafenstadt, um sich ein Bild von der Lage zu machen, wie ihre Partei mitteilte. Wer das Gebäude angezündet hat, ist noch unklar.

Die Eskalation in Odessa, aber auch der am Freitag gestartete Militäreinsatz der ukrainischen Armee im Osten des Landes – es ist wohl der Beginn eines Bürgerkrieges, wenn nicht eines Krieges zwischen zwei Staaten: Russland und der Ukraine.

In den Morgenstunden am Freitag begannen ukrainischen Einheiten der Armee, des Innenministeriums und der Nationalgarde mit der Offensive auf die beiden von Separatisten besetzten Städte Slowjansk und Kramatorsk. Den ganzen Tag über kam es zu Feuergefechten in Vororten. Innenminister Arsen Awakow rief die Bewohner der Region dazu auf, zu Hause zu bleiben.

Vormarsch

Zunächst war von mehreren Toten auf beiden Seiten die Rede. Seitens der Separatisten hieß es am Abend, die ukrainischen Kräfte hätten nur wenige Straßenzüge in den Vororten eingenommen, die Stadt mit ihren rund 125.000 Einwohnern aber sei weiter in ihrer Hand. In der Nacht auf Samstag rückten die ukrainischen Truppen mit schweren Waffen und gepanzerten Fahrzeugen weiter in Richtung Stadtzentrum vor. Hier, in Slowjansk, wird weiter ein Team von Militärbeobachtern einer OSZE-Mission festgehalten.

Für die ukrainischen Kräfte begannen die Kämpfe zunächst verlustreich. Bereits am Vormittag hatte das Verteidigungsministerium in Kiew den Verlust von zwei Kampfhubschraubern des Typs Mi-24 in Slowjansk bekannt gegeben. Zwei Piloten starben. Die Hubschrauber seien von tragbaren Geschützen abgeschossen worden, hieß es. Dies beweise, dass es sich bei den pro-russischen Kräften in Slowjansk und Kramatorsk nicht um friedliche Demonstranten handle, sondern um Terroristen, so Kiew. Im Zusammenhang mit den Abschüssen verkündete das Innenministerium die Festnahme von vier Verdächtigen. Auf Fotos waren Personen mit über den Kopf gestülpten Säcken zu sehen.

Russischen Meldungen zufolge wurden indes Flüge russischer Airlines nach Donezk und Charkiw von Kiews Behörden verboten. Diese hatten bereits zuvor die Einreisebestimmungen für männliche Russen zwischen 18 und 60 Jahren drastisch verschärft. Dahinter liegt die Vermutung der Ukraine, dass zahlreiche pro-russische Aufständische in der Region russische Staatsbürger, wenn nicht sogar Angehörige russischer Spezialeinheiten sind.

Russland geißelte den Einsatz der ukrainischen Sicherheitskräfte indes als "Verbrechen", das das Land in eine "Katastrophe" führen werde – so das Außenministerium in Moskau. Es handle sich um einen "Vergeltungseinsatz unter Beteiligung der Terroristen" der rechtsextremen Gruppe "Rechter Sektor". Der Westen wird in der Erklärung zur Beendigung seiner "destruktiven Politik" aufgerufen.

Russlands Präsident Wladimir Putin warf der ukrainischen Regierung vor, mit dem Einsatz die "letzte Hoffnung" auf eine Umsetzung des Genfer Abkommens zu zerstören. Das Abkommen zwischen der Ukraine, Russland, der EU und den USA sieht eine Entwaffnung irregulärer Milizen sowie die Räumung der 32 besetzten Verwaltungs- und Regierungsgebäude in insgesamt 17 Städten vor, wird aber von Russland anders ausgelegt als von den restlichen Unterzeichnern.

Vorwand

In Kiew wächst indes die Angst, dass Russland die Eskalation in der Ostukraine als Vorwand für einen Einmarsch nutzen könnte. Zuletzt hatte Übergangspräsident Turtschinow die erst vor einem Jahr abgeschaffte Wehrpflicht für Männer wieder eingeführt. Es war auch Turtschinow, der eingestand, dass Kiew die Kontrolle über Teile der Ostukraine verloren habe. Die Behörden, so Turtschinow, hätten keine Kontrolle mehr über die Lage in Donezk. Dort wurden am Freitag zwei US-Journalisten entführt. Inzwischen heißt es, besonders auf Amerikaner würde Jagd gemacht.

Dutzende Tote in Odessa

Die fast stündliche Verschärfung der Ukraine-Krise rückte die neue Ost-West-Konfrontation noch mehr in den Mittelpunkt der Gespräche von Kanzlerin Merkel mit Präsident Obama als sie das ohnehin geplant hatten. Der größte Teil ihrer vier Stunden im Weißen Haus waren der Frage gewidmet, wie die Verbündeten auf die neuen Herausforderungen reagieren werden.

"Wir stehen geeint in unserer Geschlossenheit, Russland einen Preis für seine Aktivitäten zahlen zu lassen", sagte der US-Präsident bei der Pressekonferenz im Rosengarten des Weißen Hauses. Merkel betonte die Bedeutung der transatlantischen Partnerschaft bei der Lösung des Konflikts.

Keiner der beiden wollte sich festlegen, unter welchen Bedingungen konkret neue Sanktionen verhängt würden. Merkel betonte aber, dass die ungestörten Präsidentenwahlen in der Ukraine am 25. Mai ein ganz wichtiges Kriterium seien. Sollte Moskau bis dahin nichts zur Stabilisierung der Lage unternehmen oder die Wahlen, seien weitere Sanktionen "unvermeidbar", so Merkel.

Obama verlangte anders als konservative Stimmen in Washington von Russland aber nicht eine Annäherung der Ukraine an den Westen zuzulassen, sondern nur: Kiew müsse eigene Entscheidungen ohne Intervention aus Moskau treffen können. Das liegt näher an der deutschen Haltung als bisher.

Deutlicher als erwartet sprach Merkel das umstrittene Thema der umfassenden elektronischen Überwachung Deutschlands durch die USA an. Zwar zeichne sich kein "No-Spy"-Abkommen der Länder ab, doch werde der Dialog darüber intensiviert. Merkel zeigte auch Verständnis für die Sicherheitsbedürfnisse der USA.

Das Arbeitstreffen wurde nach der Pressekonferenz fortgesetzt. Augenzeugen beschrieben die Stimmung als entspannt, vor Beginn des offiziellen Gesprächs waren Kanzlerin und Präsident zu sehen, wie sie miteinander scherzten und lachten.

Die Nervosität in der europäischen Energiewirtschaft steigt. Russland hat am Freitag Vertretern der Ukraine und der EU bei einem Spitzentreffen in Warschau unverhohlen mitgeteilt, dass Gaslieferungen nur noch bis Ende Mai garantiert seien.

Bis zu diesem Zeitpunkt seien die Erdgas-Schulden, die die Ukraine bei der russischen Gazprom angehäuft habe, noch gestundet, machte Russlands Energieminister Alexander Nowak klar. Mit rund drei Milliarden Euro steht die Ukraine bei Gazprom in der Kreide. Diese Schulden könnte das Land wohl mit dem zugesagten Geld des Internationalen Währungsfonds (IWF) und der EU begleichen.

Doch Russland hat plötzliche eine neue Rechnung aufgestellt. Die Ukraine schulde Moskau viel mehr, nämlich elf Milliarden Euro. Dies ergebe sich aus Mieten, die Russland für die Stützpunkte auf der Krim gezahlt habe. Jetzt, wo die Krim russisch sei, müsse die Ukraine die bereits bezahlten Mieten zurück zahlen, lautet die Idee der Russen. Weder IWF noch EU können für diese Summe einspringen. Damit würden sie ja die Annexion der Krim akzeptieren.

Daher arbeiten die Energieexperten in ganz Europa hektisch an Plänen für den Gas-Notstand. Zwischen 30 und 40 Milliarden Kubikmeter Erdgas beziehen die EU-Länder derzeit aus Russland – etwa ein Drittel des Gesamt-Gasbedarfs.

Notfall-Szenarien

Die meisten EU-Länder könnten einen Ausfall der Russengas-Lieferungen durch die Ukraine wohl kompensieren, schätzt Walter Boltz, Chef der heimischen Energiemarktaufsicht. Ein Teil des Gases könnte über die Nord Stream durch die Ostsee nach Deutschland geliefert werden. Ein anderer Teil könnte über zusätzliches Flüssiggas, etwa aus Katar, kommen – allerdings zu einem höheren Preis als der aktuelle Russen-Gaspreis. Zudem würden alle Gasspeicher im Westen derzeit befüllt.

Das Hauptproblem aber wäre die Belieferung der Ukraine mit Erdgas. 20 bis 30 Milliarden Kubikmeter Gas benötigt das Land pro Jahr. Diese Menge könnte die EU wohl kaum zusätzlich aufstellen. Der deutsche Energiekonzern RWE hat der Ukraine vorläufig vier Milliarden Kubikmeter Gas zugesagt. Geliefert wird das Gas über eine Pipeline durch Polen.

Die Europäische Union ist alarmiert. "Wir verfolgen die Lage in der Ostukraine mit zunehmender Besorgnis", sagte eine Sprecherin der EU-Außenbeauftragten Catherine Ashton am Freitag. Angesichts der Kämpfe zwischen ukrainischen Regierungstruppen und pro-russischen Separatisten fordert die EU Schritte zur Deeskalierung. Dazu zählt konkret die Räumung besetzter Gebäude, wie es in Genf – mit Zustimmung Russlands, aber bisher ohne Wirkung – vereinbart wurde. Allerdings mahnte Ashtons Sprecherin, dass die Räumung mit "Zurückhaltung" geschehen müsse.

Außerdem betonte die EU ihre Forderung nach Freilassung der OSZE-Militärbeobachter, die am Freitag noch immer in der Hand der Milizionäre in Slowjansk waren.

Krisentreffen in Wien

Wegen der akuten Zuspitzung der Lage in der Ostukraine tagen am kommenden Dienstag in Wien gleich 30 Außenminister der 47 Europarats-Mitgliedsstaaten. Damit ist das alljährliche Ministerkomitee zum Abschluss des österreichischen Europarat-Vorsitzes so hochrangig besetzt wie schon lange nicht mehr. Auch Russlands Außenminister Sergej Lawrow hat zugesagt. Ob er selbst kommt oder einen Stellvertreter schickt, war am Freitag aber noch nicht sicher. Jedenfalls wird der Außenminister der Ukraine, Andrej Deschtschiza, kommen. Und selbstverständlich nehmen die Minister wichtiger EU-Staaten wie Deutschland oder Großbritannien teil.

Die Suche nach Möglichkeiten, die Situation in der Ostukraine zu entschärfen, wird das Treffen in der Hofburg dominieren. Dabei wird Außenminister Kurz als Gastgeber seine Rolle zu spielen haben. In seiner Funktion als Europarats-Vorsitzender war Kurz gemeinsam mit Generalsekretär Thorbjörn Jagland im März und April in der Ukraine, um sich vor Ort zu informieren. Dabei traf Kurz nicht nur Premier Jazenjuk, sondern auch Gouverneure der Ostukraine.

Man kann der ukrainischen Übergangsregierung viel vorwerfen: dass sie chaotisch vorgeht, dass sie sich aus alten Eliten zusammensetzt, dass sie schwach und nur zu einem gewissen Grad legitim ist. Aber was man nicht kann, ist einem Staat vorzuwerfen, sein Territorium zu verteidigen. Wenn Bewaffnete ohne Hoheitsabzeichen Städte und Orte übernehmen und ganze Landstriche als eigenes Gebiet beanspruchen, zugleich aber eine klare Mehrheit der lokalen Bevölkerung für den Erhalt der territorialen Integrität eintritt – und das ist im Donbass nach wie vor der Fall –, hat ein Staat die Verpflichtung gegenüber seinen Bürgern, aktiv zu werden.


Für Kiew wird in der Ostukraine die Zeit knapp. Zugeständnisse seitens der Übergangsführung (Föderalisierung, Abstimmung über den Verbleib bei der Ukraine parallel zur Präsidentenwahl, Minderheitenrechte) haben keinerlei Wirkung gezeigt. In weniger als einem Monat sollen Präsidentenwahlen stattfinden, und wenn diese Wahlen repräsentativ sein sollen, müssen sie auch im Osten der Ukraine flächendeckend funktionieren. Kiew braucht diese Wahl so früh wie möglich – weil sich die Führung von dem Vorwurf befreien muss, keine Legitimität zu besitzen. Zugleich wollen Separatisten im Osten Kiew zuvorkommen und bereits am Sonntag in einer Woche ein Referendum über die Loslösung von der Ukraine abhalten. Mit einer Zielrichtung: Beitritt zu Russland.


Welchen Einfluss auch immer Moskau auf derartige Bestrebungen hat: Wenn Moskau ehrlich versuchen wollte, einen Krieg in der Ukraine zu verhindern, müsste es solchen Bestrebungen eine klare Absage erteilen und alle Kanäle nutzen, um Aufständische dazu zu bewegen, ihre Waffen niederzulegen – tut es aber nicht.

Halsstarrige Mantras von der illegitimen, faschistoiden Führung in Kiew, die bedingungslos zurücktreten müsse, sind da in keiner Weise förderlich. Oder das Lied, vom Selbstbestimmungsrecht der Völker – ein Recht, das Moskau vor allem dann erkennt, wenn es dem Erhalt oder der Ausdehnung der eigenen Einflusssphäre dienlich ist. Moskau muss endlich einsehen, dass die Ukraine keine russische Provinz mit besonderem Autonomie-Status ist, sondern ein Staat, dessen Abgleiten in einen womöglich langen Bürgerkrieg auch Russland nicht gelegen kommen kann.
Zugleich muss auch die EU endlich zu einer geschlossenen, harten, aber zugleich konstruktiven Linie gegenüber Russland finden und sich dem Scharfmacher-Getöse der USA entziehen. Konkret: Die EU muss ihre politischen und wirtschaftlichen Beziehungen zu Russland gründlich überdenken – und sich mittelfristig aus der Energieabhängigkeit von Russland bewegen.
Denn die Frage lautet: Kann eine Partnerschaft mit Russland unter den gegebenen Umständen überhaupt möglich sein? Europa steht heute vor einem beispiellosen Stellvertreterkrieg zwischen Ost und West mit enormem Potenzial, auszustrahlen. Nicht weniger als das gilt es jetzt und sofort zu verhindern.

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