"Die IS-Terroristen sind die neuen Nazis"

Der Autor Jürgen Todenhöfer im Gespräch mit einem Dschihadisten
Autor Jürgen Todenhöfer war zehn Tage in der IS-Region unterwegs. Er analysiert, warum IS so schwer zu stoppen ist.

Vor einem Jahr hat der Islamische Staat das Kalifat ausgerufen. Seit August 2014 fliegt eine von den USA geführte Allianz Luftangriffe gegen den IS. Mit wenig Erfolg. Trotz der Bombardements konnte der IS sein Einflussgebiet ausweiten. Er rückte in die strategisch wichtige Stadt Ramadi im Irak ein. Am Montag nahm die IS-Terrormiliz dann die syrische Stadt Palmyra ein. Zehntausende sind auf der Flucht. Der Ruf nach einer neuen Militärstrategie gegen die Dschihadisten wird laut. Anfang Juni trifft sich in Paris die internationale Anti-IS-Koalition zu neuen Beratungen.

Der einzige westliche Reporter, der zehn Tage bei den IS-Gotteskriegern lebte, ist der deutsche Jürgen Todenhöfer (71). Der ehemalige CDU-Bundestagsabgeordnete und Ex-Manager des Burda-Verlages ist in Deutschland nicht unumstritten. Er interviewte Syriens Präsident Baschar al-Assad, reiste zu den Taliban nach Afghanistan, war im Irak-Krieg in Sperrgebieten unterwegs. Seine Reisen ließen ihm zum Ankläger gegen die Kriege des Westens im Irak und in Afghanistan werden. Todenhöfer meinte, Ex-Präsident George Bush hätte mehr Menschen auf dem Gewissen als Osama Bin Laden.

Mag sein, dass Todenhöfers USA-Kritik ihm und seinem 31-jährigen Sohn die Reise in die Welt des IS möglich machte.

KURIER: Herr Todenhöfer, vor Kurzem wurde die irakische Stadt Ramadi eingenommen. Am Montag Palmyra in Syrien. Warum kann die internationale Allianz IS trotz der Luftangriffe nicht stoppen?Jürgen Todenhöfer: Die Diskussion um die Luftangriffe gab es schon im Irak- und im Afghanistan-Krieg. Ich war damals alleine mit meiner Meinung, dass Luftangriffe nicht der richtige Weg sind. Denn die Zahlen widerlegen die Strategie eindeutig. Zu 90 Prozent treffen die Bomben Unschuldige. Für jedes getötete Kind stehen mindestens zehn junge Leute auf und greifen zu den Waffen, weil sie sich rächen wollen. In den Höhlen des Hindukusch in Afghanistan lebten anfangs ein paar hundert Terroristen, heute sind es über 100.000 Terroristen. Die meisten haben heute sogar einen eigenen Staat.

Kobane und Tikrit konnten zurückerobert werden. Diese Niederlagen scheinen IS nach den neuesten Eroberungen nicht geschwächt zu haben...

Das spielt für den Islamischen Staat keine Rolle. Sie verfolgen eine Guerilla-Taktik. Ich halte IS für die gefährlichsten Terroristen der Neuzeit. Der Westen muss aufpassen, dass sie nicht den Mittleren Osten unter Kontrolle bringen.

Hat der Westen IS unterschätzt?

IS ist gefährlicher als Al-Kaida. Das sind für mich die neuen Nazis. Der Islamische Staat hat nichts mit dem Islam zu tun. Es ist eine Privatideologie, die perverse Gewalt als Waffe einsetzen. Der Westen hat diesen Terror selbst gezüchtet. Hätten wir die Muslime fair behandelt, dann gäbe es keinen Terrorismus. Die Europäer, die ich in den zehn Tagen auf meiner Reise getroffen habe, erzählten mir, dass sie die größte Zeit ihres Lebens erfahren und sich als Teil eines historischen Ereignisses fühlen. Die meisten der IS-Kämpfer aus Europa haben noch nie den Koran gelesen und sind total Hirn-gewaschen. Doch im Gegensatz zu Europa, wo sie sich als nichts fühlten und massiv diskriminiert wurden, erfahren sie bei IS eine Wertschätzung. Es war ein Leichtes für die IS-Führung, aus sympathischen Menschen grausame Killer zu machen.

Wie werden die Dschihadisten manipuliert?

Ihnen wird gesagt, sie müssen die Muslime gegen den Westen und die Diktatoren verteidigen, da Ihnen ja sonst niemand hilft. Es sei ihre religiöse Pflicht. Die IS-Anführer locken die jungen Menschen dann an, indem sie behaupten, dass es eine Aussage des Propheten Mohammed gibt, dass jetzt in Syrien eine Entscheidungsschlacht zwischen Gut und Böse stattfindet. Wenn man den Dschihadisten entgegenhält, dass im Koran steht, dass keine Angriffskriege geführt, keine Kinder getötet werden dürfen, dann entschuldigen die Dschihadisten das brutale Vorgehen mit einem Sonderfall.

Haben Sie bei Ihrem Aufenthalt im Islamischen Staat auch den Grund für die Grausamkeit hinterfragt?

Ich habe mit den IS-Kämpfern am Boden geschlafen und mit ihnen Dutzende Gespräche geführt. In 113 von 114 Suren im Koran kommt die Barmherzigkeit Gottes vor, argumentierte ich öfters. Aber dann erhält man absurde Antworten wie – der Schwache kann nicht barmherzig sein. Oder: In Mossul hätten wird 3500 Menschen töten können, aber es waren 1700. Da haben wir Barmherzigkeit gezeigt.

Welche Strategie verfolgt der IS mit den Gräueltaten?

Hinter dieser kalten Strategie stecken zwei Ziele. Erstens der Gegner verfällt in Furcht und Schrecken oder er läuft davon. Die Enthauptungen der US-Geiseln haben nur einen Zweck: Die Amerikaner zu provozieren, damit die Truppen einmarschieren. Die Dschihadisten wünschen sich einen Bodenkrieg – denn auch die finale große Schlacht gegen das Böse ist ein Teil der Prophezeiung.

Wie kann der IS ein Gebiet, das mittlerweile so groß wie Frankreich ist, unter Kontrolle halten?

Sie greifen auf bereits vorhandene Strukturen zurück. Sowohl bei der Verwaltung, als auch militärisch. Hohe Ex-Saddam-Offziere, die von den Amerikanern nach dem Sturz von Saddam Hussein entlassen wurden, planen die militärischen Angriffe. An diesem Beispiel zeigt sich, wie der Irak zur Brutstätte von IS werden konnte. Wenn man in Mossul mit den Menschen spricht, dann betonen sie, keine IS-Sympathisanten zu sein. Aber IS war für die Bevölkerung das kleinere Übel als die neue schiitische Regierung, von der sich die sunnitische Bevölkerung seit 12 Jahren schikaniert fühlt.

Dieses Problem hat der Irak mittlerweile erkannt und versucht, Sunniten in die Regierung zu holen. Ein erster Schritt in die richtige Richtung?

Das sind alles nur Alibi-Sunniten, die hier in die Regierung geholt werden. 35 Prozent der irakischen Bevölkerung sind Sunniten. Nach dem Sturz Saddam Husseins wurden sie von den Amerikanern aus allen Ämtern rausgekickt. Das nächste Problem sind die Mitglieder von Saddam Husseins ehemaliger Baath-Partei. Da geht es samt Familien um rund vier Millionen Menschen, die nach dem Einmarsch der US-Truppen drangsaliert wurden. Ohne eine nationale Aussöhnung dieser drei Gruppen wird es keinen Frieden geben. Leider herrscht so viel Hass, dass eine Generation vergehen muss, um dieses Gefühl vergessen zu machen. Aber so viel Zeit haben wird nicht.

Wie haben Sie es geschafft, mit einer Garantie des Kalifen in den Islamischen Staat zu reisen?

Es ist sicher die Reise, die ich am längsten und am besten vorbereitet habe. Ich und mein Sohn Frederic haben 80 deutsche Dschihadisten über Facebook angeschrieben. 15 Dschihadisten antworteten – davon waren zwei für ein Interview interessant. Monatelange habe ich mit ihnen via Skype kommuniziert und immer wieder gefragt, ob ich eine Garantie vom Kalifen bekomme, damit ich wieder heil nach Hause komme. Die habe ich dann nach sechs Monaten erhalten.

Dieser Garantie haben Sie wirklich vertraut?

Ja, aber ich nahm mir ein Medikament mit. Hätte die Garantie nicht gehalten, hätte ich mir eine tödliche Überdosis verabreicht. Ich wollte nicht, dass IS das Drehbuch meines Todes schreibt.

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