Unbegleitete Flüchtlinge: "Da ist viel versäumt worden"

Überlastete Beamte, frierende Flüchtlinge – das Asyl-Amt in Berlin
Ein Vormund betreut meist mehr als 50 Jugendliche - Radikalisierung ist auch „hausgemachtes Problem“

Gut 60.000 junge Flüchtlinge leben in Deutschland ohne ihre Eltern, als unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, wie sie in der Fachsprache heißen. Wie viele von ihnen traumatisiert sind, vielleicht Hass ins sich tragen, empfänglich für radikale Gedanken sind, "das ist sehr schwer zu sagen", sagt Niels Espenhorst. Er arbeitet beim Bundesverband für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, einer Organisation, die es zwar seit den 1990ern gibt, die derzeit aber gefragt ist wie nie: Seit ein 17-jähriger Afghane in Würzburg mit einer Axt auf mehrere Menschen eingeschlagen hat, sucht man auch hier nach Antworten.

Natürlich, Einzeltäter werde es immer geben – aber Hinweise, warum Riaz A. sich unbemerkt radikalisieren konnte, sind auch im deutschen Behördensystem zu suchen. Genau hinschauen, was mit einem Menschen geschehe, ist nahezu unmöglich: Obwohl gerade jugendliche Flüchtlinge oft massiv traumatisiert ankommen, werden sie nicht speziell betreut – teils gar nicht. Theoretisch müsste sich um jeden Unbegleiteten ein gesetzlicher Vormund kümmern, praktisch gebe es den aber oft nicht. "Die Zahl der Flüchtlinge pro Vormund liegt meist weit über 50", sagt Espenhorst; eine Eins-zu-Eins-Betreuung ist da unmöglich. Dazu kommt, dass es oft Monate braucht, bis ein Vormund bestellt wird. "Meist dauert es bis zu jenem Zeitpunkt, wo der Jugendliche in eine dauerhafte Unterbringung gebracht wurde." Bis dahin ist er im Niemandsland ohne rechtliche Vertretung, Ansprache oder Kontrolle.

Tausende Abgetauchte

Gerade was die Kontrolle betrifft, haben die Behörden in ihrer Überforderung zudem Lücken geschaffen, die jetzt sichtbar werden. So wurden im Zuge des großen Andrangs 2015 zwar Erwachsene erkennungsdienstlich behandelt, Unter-18-Jährige allerdings nur, wenn sie im Familienverbund ankamen. Dementsprechend weiß man heute nicht, wie viele Unbegleitete in Deutschland sind – und wie viele abgetaucht sind. Bis zu 9000 sollen es sein, so die Schätzung; und tauchen sie wieder wo auf, kann man ihre Daten nicht abgleichen – schließlich wurden keine Fingerabdrücke genommen. "Das ist ein hausgemachtes Problem", sagt Espenhorst, "und es erstaunt mich, dass die Regierung das so hinnimmt. Da ist viel versäumt worden."

Besonders dramatisch sei die Situation übrigens in Berlin, sagt Espenhorst. Durch die Überforderung der Ämter, die im Herbst zu diversen Zwischenfällen geführt hat – Kinder wurden aus den Warteschlangen vor dem Flüchtlingsamt entführt –, gibt es hier 1000 Unbegleitete, die überhaupt keine Betreuung haben. Von psychologischer Betreuung, die ja auch eine Kontrollfunktion hat, ist man in Berlin noch weiter entfernt als anderswo – und das, obwohl es genügend Freiwillige Helfer gäbe: "Es gibt viele Ehrenamtliche, die gerne Vormund werden würden", sagt Espenhorst. Doch die Verwaltung scheint das wenig zu kümmern. "Die erhalten von der Stadt nicht mal einen Rückruf."

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