Der Flüchtlingsstrom aus der Türkei reißt ab

Der französische Premier Valls treibt einen Keil zwischen Merkel und Hollande.
Nur 188 Flüchtlinge kamen in Griechenland an. Paris und Berlin weiter uneinig.

Wenige Tage vor einem richtungsweisenden EU-Gipfel gibt es eine neue Information: Am Sonntag kamen nur 188 Flüchtlinge über die Türkei nach Griechenland. Damit könnte sich die Strategie von Bundeskanzlerin Angela Merkel bestätigen, auf das Schlüsselland Türkei in der Flüchtlingspolitik zu setzen.

Diese Botschaft ist für Merkel und die "Koalition der Willigen" erfreulich. Ob sie alle Länder in der EU erfasst, ist fraglich. Am Wochenende gab es kritische Aussagen. Frankreichs Premier Manuel Valls will nur "die vereinbarten 30.000 Flüchtlinge aufnehmen, aber nicht mehr". Das ist für die deutsche Kanzlerin und ihre Strategie, eine gemeinsame Lösung zu finden, ein schwerer Schlag. Zudem stellte Valls klar, dass seine Regierung ein dauerhaftes System zur Umverteilung von Flüchtlingen innerhalb Europas ablehnt.

Diese Position des Sozialisten birgt Sprengstoff für den EU-Gipfel und für das deutsch-französische Verhältnis in sich. Vor einer Woche beim Tête-à-Tête von Merkel und Staatspräsident François Hollande in Straßburg hat dieser der Kanzlerin noch Solidarität versprochen. Die guten Umfragewerte der rechtpopulistischen Front National haben die Merkel-Hollande-Vereinbarung offensichtlich rasch zunichte gemacht.

Mazedonischer Wall

Die nächste Attacke gegen Merkel und ihren Kurs kommt von den osteuropäischen Staaten der Visegrád-Gruppe. Heute, Montag, treffen sich in Prag die Regierungschefs von Polen, Tschechien, Ungarn, der Slowakei plus die beiden Gäste aus Bulgarien und Mazedonien, um sich zu koordinieren: die völlige Abschottung der mazedonisch-griechischen Grenze sowie den Bau weiterer Zäune entlang der Balkan-Route.

Der Flüchtlingsstrom aus der Türkei reißt ab
Dieses Vorgehen wird auch von Österreich, Slowenien, Kroatien und Serbien unterstützt. Zu den Polizisten und Soldaten aus Osteuropa, die bereits im Nicht-EU-Land Mazedonien einen Schutzwall bauen, dürften bald österreichische Polizisten und Soldaten dazustoßen. Das haben Außenminister Kurz und Verteidigungsminister Doskozil angekündigt.

Das Engagement einzelner Staaten am Balkan, die Aussagen Valls und kaum Hilfe für Griechenland, laufen dem Plan der deutschen Kanzlerin zuwider, den sie in Brüssel durchsetzen will: die Stärkung der EU-Außengrenze, Hotspots und funktionsfähige Verteilzentren für syrische Kriegsflüchtlinge in Griechenland und Italien.

Koalition der Willigen

Der Flüchtlingsstrom aus der Türkei reißt ab
ABD0102_20151129 - BRÜSSEL - BELGIEN: ZU APA0185 VOM 29.11.2015 - Am 29. November 2015 fand in Brüssel der Sondergipfel der Staats- und Regierungschefs statt. Im Bild Bundeskanzler Werner Faymann mit der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel und den türkischen Premierminister Ahmet Davutoglu (r.). - FOTO: APA/BKA/ANDY WENZEL
Unbeirrt von ihren Widersachern, will Merkel ihr Konzept beim Mini-Gipfel der "Koalition der Willigen", zu dem Bundeskanzler Werner Faymann Donnerstagmittag in die österreichische EU-Vertretung einlädt, durchsetzen. Dabei geht es ihr um das Schlüsselland Türkei, dessen Ministerpräsident Ahmet Davutoğlu Gast in der Runde von zehn EU-Staaten ist. Vor dem Hintergrund, dass die Türkei ihren Verpflichtungen nachkommt, wie die Flüchtlingszahlen vom Sonntag zeigen, könnte es Merkel gelingen, Kontingente für Asylwerber aus der Türkei unter den willigen EU-Staaten durchzusetzen. Brüsseler Insider rechnen damit, dass Merkel bei dem Treffen der Willigen den französischen Staatspräsidenten, der erstmals teilnimmt, doch noch auf ihre Seite ziehen könnte. Wenn die brüchige Achse BerlinParis gekittet ist, könnte der Gruppe ein Minimalkonsens in der Flüchtlingspolitik und ein Resultat mit der Türkei gelingen.

Dass die EU trotz kleiner Erfolge gespalten ist, zeigt ein Appell des deutschen Außenministers Frank-Walter Steinmeier. Die Botschafter in den Visegrád-Ländern hat er angewiesen, den dortigen Regierungen klipp und klar zu sagen, was man von einem osteuropäischen Sonderweg hält: nichts. Das ist schon ungewöhnlich für eine sonst sanfte deutsche Diplomatie.

Zudem haben Steinmeier und Vizekanzler Sigmar Gabriel in einem Brandbrief an alle Sozialdemokraten Europas vor einer Ausgrenzung Griechenlands gewarnt. Adressat ist auch Bundeskanzler Faymann, dessen Außenminister Kurz sich wiederholt für eine Ausgrenzung Griechenlands und für eine Blockade der Balkan-Route ausgesprochen hat.

Die europäischen Staaten sind in der Flüchtlingsfrage gespalten, und das hat viele Gründe, analysiert der langjährige SPÖ-EU-Abgeordnete Hannes Swoboda im Gespräch mit dem KURIER: Frankreich etwa würde noch unter den Nachwirkungen des Terrors stehen. "Die Wurzel des Ganzen ist Furcht und Unsicherheit, und Präsident Hollande will sein Land lieber abschotten." Ähnliches sei auch in vielen osteuropäischen Staaten zu sehen.

Der Flüchtlingsstrom aus der Türkei reißt ab
ABD0142_20150808 - SALZBURG - ÖSTERREICH: Hannes Svoboda und Brigitte Ederer am Samstag, 08. August 2015 anl. der Premiere von Verdis Oper "Il Trovatore" in Salzburg. - FOTO: APA/FRANZ NEUMAYR - unbegrenzt verfügbar
Aber auch EU-Kernländer wie Italien oder Spanien lassen Solidarität vermissen: "Die Italiener haben einen Grant auf Europa, weil sie damals alleingelassen wurden, wie die Flüchtlingskrise an ihren Küsten akut wurde, auch den Spaniern erging es mit Flüchtlingsströmen aus Marokko so. Das war damals schon ein Fehler der EU", findet Swoboda.

Europa müsse jetzt mehr denn je über eine finanzielle Aufteilung sprechen, die man zur Verfügung stellen muss, damit Staaten wie die Türkei, Libanon oder Jordanien die Flüchtlinge vor Ort auch versorgen können. "Viele Flüchtlinge sind ja erst Richtung Europa losmarschiert, weil genau diese Unterstützung gefehlt hat."

Innerhalb der EU sollten Staaten, die gar nicht bereit sind, Flüchtlinge aufzunehmen "wie etwa die Slowakei" auch keine bekommen. "Doch dann sollten die Staaten dafür zahlen, dass sich die anderen darum kümmern." Swoboda schlägt "Ausgleichszahlungen" vor, "wie bei Betrieben, die aus welchen Gründen auch immer keine behinderten Menschen aufnehmen".

Eine Möglichkeit sieht der EU-Experte in der alten Idee des EU-Flüchtlingsfonds, in der jeder EU-Staat einzahlt. "Wer dann Flüchtlinge aufnimmt, bekommt dafür auch EU-Geld, wer das nicht tut, soll nur zahlen."

Am wichtigsten sei jetzt, die Flüchtlinge auszubilden, damit sie dann ihr Heimatland wieder aufbauen können. "Also Baumeister, Installateure, Elektriker und so weiter. Das wäre die beste Hilfe für die Zukunft."

Swoboda bemängelt dabei die "schwache EU-Kommission. Vergangenen Sommer, mit Beginn der massiven Flüchtlingsströme, ist ein Zenit überschreiten worden, der eigentlich dazu führen muss, dass die EU eine umfassende Revision der Entwicklungs-, Nachbarschafts- und Friedenspolitik macht. Das geht einfach nicht mehr mit Klein-Klein wie früher."

Bernhard Gaul

Die Lager sind voll, die beladenen Lastwägen stehen längst bereit, doch auf die Sicherheitsgarantien für die Hilfslieferungen in belagerten Bürgerkriegsgebiete wartet die UNO noch immer. "Es ist komplizierter als erwartet", sagte Vize-Generalsekretär Jan Eliasson. Neben der Zusicherung eines sicheren Zugangs durch die relevanten Konfliktparteien fehlten auch noch Papiere, für die das Regime von Machthaber Bashar al-Assad zuständig sei. UN-Schätzungen zufolge sind in 50 belagerten Orten in Syrien etwa 486.000 Menschen eingeschlossen. Gut ein Dutzend der 116 Anträge auf Zugang zu belagerten Gebieten wurde laut UNO bisher vom Regime genehmigt.

Von einer Waffenruhe in Syrien fehlt jede Spur. Die Kämpfe aus der Luft und am Boden halten an. Saudi-Arabien bestätigte die Verlegung von Kampfflugzeugen in die Türkei. Der türkische Ministerpräsident Davutoglu bestätigte, dass die türkische Luftwaffe im Norden Syriens Gebiete unter kurdischer Kontrolle beschossen hat.

Es waren schon mal 8000 Flüchtlinge, die täglich an der Grenze zu Bayern standen. Da klingen die 2100, die es jetzt im Schnitt pro Tag sind, vergleichsweise nach recht wenig: An den Übergangsstellen zwischen Deutschland und Österreich sei derzeit deshalb sogar so etwas wie „Normalbetrieb“ möglich, heißt es von den Behörden. „Das zwischen Deutschland und Österreich vereinbarte Übernahmeverfahren wird ohne Einschränkungen angewandt“, sagt Lisa Häger, Sprecherin von Innenminister de Maizière – jene Zahl an Flüchtlingen, die Wien per Tageskontingent überstellen möchte, wird auch von Berlin akzeptiert.

Das heißt auch, dass die im vergangenen Jahr oft lückenhafte Registrierung jetzt endlich vollständig vollzogen wird. Fingerabdrücke werden abgenommen und gespeichert, die Personalien mit den Datenbanken von Bundeskriminalamt und Eurodac abgeglichen. Deshalb kommt es jetzt auch vermehrt zu Zurückweisungen; dies konnte lange Zeit wegen des großen Ansturms nicht praktiziert werden.Wer in einem anderen EU-Land als Flüchtling geführt wird, wird nun zurückgeschickt – 4500 Personen seien es zwischen Anfang Jänner und 10. Februar gewesen, 86.000 seien eingereist, so Häger.

Die Zahl der Beamten ist ebenfalls dezimiert. Waren im Sommer noch 3800 Bundespolizisten im Grenzgebiet im Einsatz, sind es jetzt mit 1500 weniger als die Hälfte. In Bälde könnten es aber wieder mehr werden: In den vergangenen Tagen sei die Zahl der Einreisenden stetig gestiegen, so die Bundespolizei – man rechnet mit einem weiteren Anstieg.

Die Regierung hat deshalb um eine dreimonatige Verlängerung der Kontrollen angesucht. Von einer Sperre, wie sie im Herbst im Gespräch war, will derzeit aber niemand reden – zumindest nicht vor dem EU-Gipfel kommende Woche. Angela Merkel stemmt sich nach wie vor gegen die Ultima Ratio – auch wenn ihr viele Vertraute dies mittlerweile nahelegen.

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