"Dieses Land versinkt in Gewalt"

Kiew brennt: Alles und jeder Ziel von Übergriffen.
Nach den ersten Toten in Kiew ist offenbar alles und jeder zur Zielscheibe geworden. Krisentreffen ohne Durchbruch - Klitschko bittet um Geduld. Der KURIER berichtet aus Kiew.

Es ist zum Weinen“, sagt eine Aktivistin in Kiew. Nach fünf Tagen offener Konfrontation in der ukrainischen Hauptstadt scheinen alle menschlichen Schranken gefallen: „Wir sehen hier mit offenem Mund vor Schrecken staunend zu, wie dieses Land in Gewalt versinkt.“ Behördenangaben zufolge sind bisher drei Menschen im Zuge der Proteste in Kiew gestorben – die Opposition sprach bereits von mehr als 20 Toten.

Alles und jeder sei zum Ziel geworden. Irgendwo in Kiew wurde ein Wagen gefunden, der offensichtlich von beiden Seiten gerammt worden war. Im Wageninneren: Blut. Was passiert ist, weiß niemand, auch nicht, wer in dem Wagen saß.

Mindestens zwölf Personen, die verhaftet und auf Polizeistationen gebracht worden waren, sollten zu einem Gericht gebracht werden – dort kamen sie aber nie an. Später tauchte einer von ihnen schlimm zugerichtet in einem Wald an einer Schnellstraße in einem Vorort Kiews auf. Nahe jenem Ort, an dem am Vortag laut Aktivisten die Leichen zweier Oppositioneller gefunden worden waren.

Immer öfter kommt es auch in Vororten der Hauptstadt zu Unruhen. Etwa vor einem Spital, das Oppositionelle umstellt hatten, um zu verhindern, dass Verwundete aus verschleppt werden. Zuvor waren Verletzte von nicht uniformierten Männern aus einer Klinik verschleppt worden. Ärzte, die sie behandelten, wurden bedroht. Auf Sanitäter wird geschossen. Und anscheinend bezahlte Schlägertrupps machen Vororte unsicher. In der Nacht auf Donnerstag umstellten mehrere dieser Trupps die US-Botschaft, zogen aber wieder ab. Bürgerwehren, die gegen diese „Titushky“ aufgestellt wurden, werden von der Sonderpolizei angegriffen.

Aufstände im Westen

Indes stürmten Regierungsgegner Gebietsverwaltungen in der West- und Zentralukraine. In Lwiw (Lemberg) zwangen sie den Gouverneur, sein Rücktrittsgesuch zu unterschreiben. Dieser widerrief später. Die Region gilt als Hochburg der Rechtspopulisten.

Nach den Zusammenstößen vom Mittwoch beruhigte sich die Lage am Donnerstag untertags im Zentrum Kiews ein wenig. In einem Krisentreffen wollten Opposition und Regierung das Schlimmste abwenden. Es endete ohne Durchbruch, Oppositionspolitiker Vitali Klitschko bat die Demonstranten um Geduld und drängt auf einen Waffenstillstand. „Wir zeigen Bereitschaft, einen Kompromiss zu finden, aber dafür muss es auch Schritte des Macht­lagers geben“, so Klitschko. An die Führung unter Präsident Janukowitsch richtete er den Appell: „Stellen Sie den Terror gegen Aktivisten ein.“ Und von der Staatengemeinschaft forderte er mehr Druck auf den Präsidenten.

Sondersitzung avisiert

"Dieses Land versinkt in Gewalt"
Anti-government protesters gather for a rally in Kiev January 23, 2014. Ukrainian President Viktor Yanukovich called for an emergency session of parliament to end political crisis and violent unrest, in a sign he might be ready to soften his hardline stance and strike a compromise. REUTERS/Gleb Garanich (UKRAINE - Tags: CRIME LAW POLITICS CIVIL UNREST)
Parlamentspräsident Rybak kündigte für Anfang nächster Woche eine Sondersitzung an, bei der über den Rücktritt der Regierung von Premier Asarow entschieden werden soll. Der unbeliebte Regierungschef Nikolai Asarow soll offenbar für Janukowitsch über die Klinge springen, meinen Kommentatoren in Kiew.

Zugleich mehren sich die mahnenden Stimmen aus dem Ausland: Deutschlands Kanzlerin Angela Merkel warnte Janukowitsch vor einer gewaltsamen Niederschlagung der Proteste und forderte ihn auf, demokratische Grundrechte zu schützen. Sanktionen seien derzeit „nicht das Gebot der Stunde“. Die USA dagegen drohen mit Sanktionen.

Die EU will den für die östliche EU-Partnerschaft zuständigen EU-Kommissar Stefan Füle als Vermittler in die Ukraine schicken. Nächste Woche soll zudem EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton nach Kiew reisen. Als Vermittler bot sich auch der letzte Präsident der Sowjetunion, Michail Gorbatschow, an.

Aus Kiew berichtet unser Reporter Stefan Schocher.

Die Lage in der Ukraine spitzt sich zu. Zu den Hintergründen befragte der KURIER die Expertin der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, Maria Davychyk.

KURIER: Warum ist der Konflikt in Kiew jetzt derart eskaliert?

Vor einer Woche wurde ein Gesetzespaket beschlossen, das die Rechte und Freiheiten der Bürger massiv einschränkt. Da zeigte sich, wie schwach die pro-europäische Opposition ist. Sie konnte dem gar nichts entgegensetzen. Die Oppositionsgruppen haben verschiedene Ansichten, wie sich die Ukraine entwickeln soll. Sie konnten sich noch nicht einmal auf eine gemeinsame Führungsfigur einigen. Deshalb haben radikale Demonstranten jetzt die Sache in die Hand genommen.

Wer sind sie? Was wollen sie?

Die radikalen, gewaltbereiten Demonstranten gehören zum „Rechten Sektor“ (Pravyi Sektor), in dem sich viele verschiedene Gruppierungen aus allen Teilen der Ukraine zusammengeschlossen haben. Sie gelten als ultra-rechts. Ihnen geht es jedenfalls um einen radikalen Machtwechsel: Sie fordern einen Elitenwechsel – weg von den Oligarchengruppen und der Verflechtung zwischen Politik und Wirtschaft. Sie sind nicht gegen Russland, aber für eine Distanzierung von Russland. Und das einzige Mittel, dieses Ziel zu erreichen, ist aus ihrer Sicht eine „Revolution“.

Wie viele Anhänger hat dieser „Rechte Sektor“?

Das ist schwer abzuschätzen. Jedenfalls haben die Radikalen seit Sonntag, als die Proteste in Kiew gewalttätig wurden, massiven Zuwachs in den sozialen Netzwerken, über die sie sich organisieren.

Wen sprechen sie an?

Sie sprechen viele Junge an, die wegen der maroden Wirtschaftsstruktur arbeitslos sind und keine persönliche Perspektive sehen. Denn die Krise, die wir erleben, ist auch eine soziale Krise. Die private Misere, die massive Korruption und Verflechtung zwischen Wirtschaft, also den Oligarchen, und der Politik – darum geht es.

Wer kann eine weitere Eskalation verhindern?

Die Vertreter der Opposition und vieler Nicht-Regierungsorganisationen müssen die Lage beruhigen. Die Verhängung des Notstandes muss verhindert werden. Die Opposition muss sich auf eine positive Strategie zur Lösung der Krise einigen. Dabei darf es nicht um die eigenen Machtambitionen gehen.

Ist die Eskalation von der Regierung provoziert? Und mit welchem Ziel?

Faktum ist, dass die Eskalation der Regierung in die Hände spielt. Wenn es noch mehr Tote gibt, dürfte Präsident Janukowitsch bei vorgezogenen Neuwahlen, so es sie gibt, als Sieger hervorgehen. Denn dann bekommt er die Stimmen von vielen, die nur Ruhe und Stabilität wollen.

Sehen Sie die Gefahr eines Bürgerkrieges?

Davon höre ich immer wieder. Wenn es radikalen Organisationen gelingen sollte, auch die Regionen zu destabilisieren, dann haben wir ein massives Problem. Wobei ich eines betonen möchte: Es geht hier um eine Auseinandersetzung zwischen Gesellschaft und Macht, nicht zwischen West und Ost. Das wäre zu einfach.

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