Brexit-Lager feiert "Independence Day"

Großbritanniens Premier Cameron tritt ab. Die allermeisten sind ratlos.

Es war vier Uhr früh, da feierte Nigel Farage, der kontroverse Chef der populistischen UKIP bereits den Sieg im Kreise seiner johlenden Anhänger. Er rief dazu auf, die europäische Hymne und die Fahne loszuwerden und den Jahrestag des britischen EU-Referendums künftig als "British Independence Day" zu feiern. "Wir haben das geschafft, ohne dass eine einzige Kugel abgefeuert wurde", sagte Farage, acht Tage nach dem Mord an der Labour-Abgeordneten Jo Cox durch einen fanatischen Brexit-Befürworter.

Später dann in Downing Street: Premierminister David Cameron, begleitet von seiner sichtlich mit den Tränen kämpfenden Frau, hält seine Rücktrittsrede. Im Scherbenhaufen seiner durch einen fatalen Gamble zerstörten politischen Laufbahn pickte er mühsam nach Errungenschaften wie der Erhaltung der britischen Union mit Schottland und "das erneute Erstarken der britischen Wirtschaft" – Verdienste, die das Referendum eben zunichtegemacht hatte.

"Frischer Premierminister"

Dann skizzierte er seinen Plan für den anstehenden Brexit: Großbritannien brauche einen "frischen Premierminister", er werde daher an den Verhandlungen mit der EU nicht mehr als "Kapitän des Schiffs" teilnehmen. Bis zum konservativen Parteitag im Oktober wolle er aber noch im Amt bleiben. In Brüssel, wo man jede Ungewissheit so schnell wie möglich beseitigen will, stieß das auf blankes Unverständnis. Und schon begann sich der erste Konflikt in diesem Scheidungskrieg abzuzeichnen.

Wenige Stunde zuvor hatte alles noch ganz anders ausgesehen. Doch die letzten Meinungsumfragen, die die "Remain"-Seite vorne gesehen hatten, stellten sich als ebenso falsch heraus, wie die Voraussagen der Analysten in den Bankentürmen der Londoner City. Auch sie waren offenbar der täuschenden Wahrnehmung in der abgeschlossenen Blase ihrer Metropole erlegen.

Londoner waren klar für EU-Verbleib

Rund zwei Drittel der Londoner Bevölkerung, ja in einigen Gegenden gar an die 80 Prozent stimmten für den Fortbestand in der EU. Die Verhältnisse aber drehten sich in Richtung der Vororte, aber vor allem in verarmten Gebieten von Essex, East Anglia, dem Norden Englands und Wales völlig ins Gegenteil um. Einzig Schottland und London verbuchten starke Mehrheiten für "Remain". Die Arbeiterklasse der industrialisierten, traditionellen Labour-Reviere war dagegen der Empfehlung ihrer Stammpartei zum Trotz geschlossen ins "Brexit"-Lager gewandert. Der im Referendumswahlkampf schlapp agierende Labour-Chef Jeremy Corbyn erntete dafür bis zum Nachmittag bereits einen Misstrauensantrag seiner Parlamentsfraktion.

Während Zehntausende Entsetzte indes eine Online-Petition für ein zweites Referendum und für den Verbleib in der EU unterzeichneten, bereiteten im Zentrum Londons 2000 Investment Banker von Morgan Stanley die Umsiedlung nach Frankfurt und Dublin vor. Die Loslösung Großbritanniens vom gemeinsamen Markt und den damit verbundenen Rechten zur Ausführung von Finanzdienstleistungen wird zwar noch Jahre dauern, aber die Reaktion am Währungsmarkt und an den Weltbörsen war jäh und brutal. Das Pfund landete gegenüber dem Dollar auf dem tiefsten Stand seit 1985. Mark Carney, Gouverneur der Bank of England, musste schon Stunden vor Öffnung der Börse beschwören, dass die britischen Banken ausreichend liquid sind.

"Drecksack"

Das war wohl mit ein Grund, warum Reden der Häuptlinge der Brexit-Brigade, Londons Ex-Bürgermeister Boris Johnson und Justizminister Michael Gove, so zurückhaltend ausfielen. Großbritannien, sagte Johnson, der vor seinem Haus von einer Menge ausgebuht und als "Drecksack" beschimpft wurde, sei heute um nichts weniger vereint und europäisch, und die Wählerentscheidung "das Gegenteil von Isolationismus". Die Jugend sähe einer "sichereren und wohlhabenderen Zukunft" entgegen.

Sehr zur Verwunderung seiner Zuhörer in Brüssel meinte Johnson auch, dass es keinen Grund gäbe, Artikel 50 des EU-Vertrags in Kraft zu setzen, der die komplexe Abwicklung des Austritts regelt.

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