"Ein Spiel, bei dem alle verlieren"

"Wir sind raus". Britische Medien kannten gestern nur ein Thema
In London gehen düstere Zukunftsvisionen um. Angst - vom Banker bis zum Zimmermädchen.

Zeit und vor allem Nerven, um zu plaudern, haben die Herren im Nadelstreif heute nicht einmal in ihrer Mittagspause. In den Kaffeebars im Schatten der riesigen Glastürme in der City geben die Alarmtöne der Smartphones ein Konzert ohne Pause. Dann wird wieder hektisch getippt, neue Zahlen, Kurse etc. werden mit dem Nachbarn ausgetauscht, dazwischen kommentiert man die jüngsten Meldungen mit ebenso knappen wie groben Bemerkungen. Fragt der Reporter dann vorsichtig nach einer ersten Einschätzung der Lage, bekommt er trotz allem nur eine Dosis britisches Understatement aufgetischt: "Es ist, was es ist: eine neue Welt, ein neues Spiel. Wie es geht, wissen wir aber noch nicht."

"Ein Spiel, bei dem alle verlieren"
A woman wearing a vote remain tee-shirt reacts, following the result of the EU referendum, in London, Britain June 24, 2016. REUTERS/Neil Hall

Ärger über Kleinstädter

Deutlicher anzusehen sind die Emotionen den jüngeren Bankern hier. Viele davon haben die Nacht des Brexit in den Büros verbracht, bei Kaffee, Pizza und dramatischen Kursstürzen. Da hält sich dann Jiao, der seit drei Jahren hier Kredite handelt, an seiner dritten Zigarette hintereinander fest und ist plötzlich entwaffnend ehrlich: "Ich sollte mit Ende zwanzig doch eigentlich das große Geld verdienen – da ist so eine Unsicherheit das Letzte, das ich brauche."

Nicht nur zwischen den Glastürmen des Bankenviertels gehen an diesem Tag die düsteren Gedanken um. Auch im Multikulti-Viertel Camden, wo Hipster und tiefgläubige Muslime auf der selben Straße mit etwa gleichlangen Bärten herumlaufen, fühlt man sich irgendwie um eine Hoffnung ärmer. "Das sind diese Kleinstädter", ärgert sich ein Student, "die bleiben eh nur zu Hause und fürchten sich trotzdem vor der Welt – und vor den Zuwanderern." Ein Teil von Europa wären sie gerne, betonen er und seine Freunde, und erzählen von ihren Reisen, Studienaufenthalten zwischen Wien und Lissabon: "Es ist doch gut, wenn man Freunde und Verbündete da draußen hat."

"Ein Spiel, bei dem alle verlieren"
A taxi driver holds a Union flag, as he celebrates following the result of the EU referendum, in central London, Britain June 24, 2016. REUTERS/Toby Melville

Der Böse vom Dienst ist bei all diesen Gesprächen rasch gefunden, Nigel Farage, der Chef der rechtspopulistischen UKIP. Abstoßend seien die Plakate mit den endlosen Schlangen von Flüchtlingen, mit denen er für den Brexit Stimmung gemacht hat. Rassistisch sei das – und das will in Camden niemand sein. Auch nicht die zwei alten Damen, die sich neben dem Spielplatz ihren Platz auf einer Parkbank zwischen all den schwarz verschleierten Muslimas erkämpft haben. Die beiden haben sehr wohl für den EU-Austritt gestimmt, und sie halten auch gar nicht hinter dem Berg damit, warum sie das getan haben. "Schauen Sie sich hier um", zeigt Shirley auf den Spielplatz: "Die kriegen so viele Kinder, da kommen unsere Hebammen gar nicht nach – und für jedes holen sie sich Unterstützung, sogar wenn das Kind gar nicht hier lebt."

"Eine seltsame Koalition zwischen denen, die ohnehin nichts mehr zu verlieren haben, und denen, die so viel haben, dass sie sich Verluste locker leisten können", ortet Iain Begg, Wirtschaftsexperte von der renommierten London School of Economics, im Gespräch mit dem KURIER, hinter der Mehrheit für den Brexit. Für alle anderen aber, sei diese Entscheidung "ein Spiel, in dem es nur Verlierer gibt."

Und die allerersten unter den Verlieren, so fürchten sie zumindest, könnten die Hunderttausenden EU-Bürger sein, die hier in London und überall in Großbritannien arbeiten. Kein Hotel ohne Zimmermädchen aus Polen, keine Handwerker-Partie ohne den unverkennbaren Akzent aus Ost- und Südosteuropa. Großbritannien hat ihnen vor Jahren die Türen zu seinem Arbeitsmarkt geöffnet.

Müssen sie demnächst das Land, das dann nicht mehr zur EU gehört, verlassen? Die bange Frage taucht an diesem chaotischen Freitag überall in der Stadt auf – und nicht alle beantworten sie so selbstbewusst wie Marek, der im Restaurant des eleganten polnischen Clubs im Nobelviertel Kensington arbeitet: "Man kann mir doch das Recht, das man mir einmal eingeräumt hat, nicht einfach wegnehmen."

"Ein Dilemma"

"Jetzt passiert einmal gar nichts", bemüht sich auch Österreichs Handelsdelegierter in London, Christian Kesberg, um Gelassenheit. Die britische Regierung habe ohnehin schon jetzt begonnen, "auf Zeit zu spielen". Eine Taktik, die in Anbetracht der Situation auch durchaus vernünftig sei: "Wir befinden uns schließlich in einem Dilemma, bei dem Schaden für beide Partner unvermeidlich ist, für Großbritannien und für den Rest Europas."

Je mehr die Briten die Reise- und Beschäftigungsmöglichkeiten für EU-Bürger einschränken würden, desto mehr werde die EU den britischen Dienstleistungen Schranken in den Weg stellen. Ein langes und schwieriges Feilschen sieht Kesberg auf die Briten zukommen, und all das mit einem vorerst noch nicht absehbaren Ausgang. Wie tragisch das alles enden könnte, das kann in London an diesem Tag danach noch keiner so recht beantworten. Grund genug, sich, wie etwa ein Banker beim ersten abendlichen Bier, mit ein bisschen schwarzem britischem Humor zu helfen: "Okay, der Himmel ist eingestürzt – und weiter?"

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