Bosnien: "Jetzt lassen wir die Bürger reden"

Auf der Straße gehen die Proteste weiter, vorerst friedlich: In den neu gegründeten Bürgerforen aber plant man schon erste praktische Reformen, ohne die Regierung.
Die Protestbewegung in Bosnien will den Druck der Straße in die Parlamente tragen

Keine Politiker, keine Parteifunktionäre!", das ist eigentlich die einzige Regel, die an diesem Abend im Seniorenclub in der Vorstadt von Sarajewo gilt. Denn sonst, das ist das Grundprinzip der Bürgerversammlung, die hier Unterschlupf gefunden hat, ist jeder willkommen, der etwas sagen, vor allem aber etwas verändern möchte.

Und das sind offensichtlich mehr als genug: Der kleine Saal platzt aus allen Nähten, längst wird die Debatte trotz strömenden Regens auch draußen im Garten weitergeführt.

Eine Debatte? Bald sind es zahlreiche Gruppen, die sich zusammenfinden, um gemeinsam zu besprechen, wie es jetzt weitergehen soll mit dieser Revolution in Bosnien-Herzegowina, die niemand so recht geplant hat.

Gerade vier Tage sind vergangen, seit in Sarajewo das Gebäude der Staatspräsidentschaft und einige andere politische Einrichtungen in Flammen aufgegangen sind, als eine friedliche Demonstration Zehntausender Menschen plötzlich gewaltsam eskalierte.

Die Proteste haben das ganze Land erfasst, in 33 Städten gab es Demonstrationen. Am Anfang standen Kundgebungen von Arbeitern, deren Fabriken nach zweifelhaften Privatisierungen über Nacht zugesperrt hatten. Die Wut der Gekündigten riss auf einmal das ganze Land mit. Zwanzig Jahre nach dem Friedensabkommen von Dayton, das den Menschen zwar das Ende des Krieges, aber auch einen nicht lebensfähigen Staat brachte, entladen sich Frust und Hoffnungslosigkeit auf einmal auf der Straße.

Tag für Tag sind die Menschen durch die Stadtzentren gezogen, in vier Regionen des Landes sind inzwischen die regionalen Regierungen zurückgetreten – und jetzt versammelt man sich, so wie hier im Seniorenklub, und versucht die nächsten Schritte zu planen.

Doch die können in viele Richtungen führen. Soll man eine Führung dieses Bürgerforums wählen, in Folge eine Partei gründen und bei den Parlamentswahlen im kommenden Herbst antreten?

Fehlkonstruktion

Für die meisten hier kommt das nicht infrage, zu verhasst ist die Parteipolitik in diesem Land. "Dann geht doch das Spiel wieder nur von vorne los", ärgert sich Elvira Jukic, eine junge Reporterin und Aktivistin über solche Ideen, "ein Politiker tritt zurück, ein anderer kommt an die Macht und steckt sofort wieder Geld ein. Dieser ganze Staat ist von Anfang an falsch konstruiert worden."

Bosnien: "Jetzt lassen wir die Bürger reden"
Falsch, vor allem aber ungemein kompliziert und aufwendig. Aus Angst, die drei verfeindeten Volksgruppen, Bosnier, Kroaten und Serben, nur ja nicht einander zu nahe kommen zu lassen, hat man das kleine Bosnien mit seinen nicht einmal vier Millionen Einwohnern in einen serbischen und einen bosnisch-kroatischen Teil gespalten – und den wieder in mehr als ein Dutzend Kantone, jeder mit seiner eigenen Regierung. Obendrauf sitzen dann zwei Regierungen für die beiden Landesteile und darüber noch eine gesamtstaatliche.

Das alles ergibt mehr als 160 Minister, Dutzende Premiers, Präsidenten, Parlamente über Parlamente – zusammengefasst eine politische Kaste, die nicht nur größer ist als jede andere in Europa, sondern auch noch nichts anderes tut, als ihren jeweiligen Clans Geld und Jobs zuzuschanzen.

Dass dieser Staat nicht funktioniert, weiß man in Bosnien inzwischen überall. Aber ihn deshalb so einfach abschaffen?"Wer nimmt eigentlich all diese Rücktritte an, wenn es keine Regierung mehr gibt?", fragen sich die zwei jungen Demonstrantinnen Mahira und Lamija, "wer kümmert sich um das Budget, die Verwaltung?" Wenn man sich jetzt und hier schon nicht auf gemeinsame Forderungen einigen könne, mischt sich ein anderer Teilnehmer ein, "wie sollen wir uns dann auf eine neue Politik einigen?"

Während man sich in Sarajewo noch über derart Grundsätzliches den Kopf zerbricht, ist man in der Industriestadt Tuzla, knapp 150 Kilometer weiter nördlich, schon ein Stück Demokratie weiter. Hier, unter den Arbeitern, wo die Demonstrationen angefangen haben, tagt das Bürgerforum nicht nur täglich, sondern stimmt auch über ein tägliches Paket mit Forderungen an die Behörden ab. "Wir beschränken uns vorerst auf ganz praktische Dinge", erklärt der Uni-Professor Damir Arsenijovic, einer der Organisatoren der Bewegung in Tuzla:"Etwa, dass die völlig überhöhten Zahlungen für längst abgetretene Politiker abgeschafft werden. Die legen wir dem örtlichen Parlament vor. Die sind ja verpflichtet, sich mit dem Willen ihrer Bürger zu befassen."

Und vorerst tun sie das sogar. Die Kürzungen sind beschlossen. Beim Bürgerforum im voll gestopften Kulturzentrum in Tuzla sorgt diese Neuigkeit für Begeisterung und für noch mehr Engagement. Draußen in den Gängen werden auch hier interne Streitereien ausgetragen, gehen Gerüchte über Parteibonzen um, die ihre Spitzel schon in der Bürgerversammlung untergebracht hätten.

Im Saal aber wird mit erstaunlicher Disziplin Punkt für Punkt vorgetragen,diskutiert und abgestimmt. Das Manifest für den nächsten Tag wächst und mit ihm bei vielen die Hoffnung, dass man vielleicht tatsächlich ein paar Schritte in Richtung einer neuen, direkten Demokratie in Bosnien unternehmen kann. Von einer Parteigründung jedenfalls will auch hier vorerst keiner etwas wissen. "Jetzt lassen wir einmal die Bürger mit ihrer Stimme sprechen", erklärt der Uni-Professor:"Es funktioniert ja – und zwar viel besser, als in diesem Land irgend etwas seit Langem funktioniert hat."

Ihren eigenen Politikern können die Bosnier schon lange nichts mehr abgewinnen. Doch die heftigste Wut und Enttäuschung richtet sich bei vielen momentan gegen einen importierten Verantwortungsträger. Es ist der Hohe Repräsentant der Internationalen Staatengemeinschaft, der Österreicher Valentin Inzko.

"Inzko kassiert nur und tut nichts", war etwa eine Parole bei einer Kundgebung in Sarajevo.

Ausgelöst hat Inzko den Ärger durch ein KURIER-Interview. Darin spekulierte der Diplomat offen mit der Möglichkeit, gegen etwaige weitere gewaltsame Proteste die in Bosnien stationierten Sicherheitskräfte unter EU-Kommando einzusetzen.

Ein Verrat ihrer demokratischen Bewegung, meinen viele in der aktuellen Protestbewegung. Ohnehin macht man die internationale Staatengemeinschaft für die Konstruktion des nicht funktionierenden Staates und damit auch für die korrupte und unfähige Politikerkaste verantwortlich. Und Inzko, als deren aktueller Vertreter, würde sich jetzt noch auf die Seite der Machthaber schlagen. Schließlich, so betont man, sei er ja eigentlich der mächtigste Mann im Land und könne daher die korrupten Politiker endlich in die Schranken weisen.

Dass sich der Österreicher, anders als einige seiner Vorgänger, in den politischen Konflikten der letzten Jahre eher zurückgehalten hat, legt man ihm hier als Untätigkeit aus. "Inzko hat nichts gemacht, seit er in Bosnien ist", meint etwa der Journalist Mahir Sahinovic:"Er kann doch angesichts der wachsenden Katastrophe in diesem Land nicht einfach zusehen. Hat nicht die Staatengemeinschaft diesen gescheiterten Staat geschaffen?"

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