"Befinden uns im Krieg mit Russland"

Andrij Sadowij regiert seit 2006 in Lemberg, Seine Partei gehört der neuen ukrainischen Regierung an.
Der Bürgermeister von Lemberg über Patriotismus, die Kämpfe in der Ostukraine und die Rolle der EU.

Andrij Sadowij ist Chef der Partei Samopomitsch und Bürgermeister von Lemberg (Lviv). Seine Partei wurde bei den Wahlen im Oktober ins Parlament (Rada) gewählt und ist jetzt Teil der Regierungskoalition. Der KURIER traf ihn zum Gespräch.

KURIER: Sie haben soeben den Posten des Vizepremiers angeboten bekommen und abgelehnt – wieso?

Andrij Sadowij: In der letzten Zeit wurden mir sehr viele Posten angeboten, aber ich kann sie nicht annehmen. Ich bin Bürgermeister. Es wäre verantwortungslos von mir, zurückzutreten. Und wir haben nicht gerade einfache Zeiten im Stadtrat und sehr schwierige Beziehungen mit einigen Abgeordneten.

Schwierige Beziehungen mit wem?

Bei den letzten Wahlen 2010 hat Swoboda (ultrarechte Partei, Anm.) gewonnen – mit 40 Prozent Zustimmung. Heute haben sie Werte von um die fünf Prozent. Alles gut. Aber sie sind noch im Amt. Für mich ist wichtig, dass die Bürger meiner Stadt geschützt werden.

In der Ukraine findet derzeit eine patriotische Mobilisierung auch abseits staatlicher Strukturen statt. Stichwort Freiwilligen-Bataillone. Sehen Sie die Gefahr, dass staatliche Strukturen unterlaufen werden?

Die sind Teil des Staates. Wir befinden uns im Krieg mit Russland. Ohne patriotischen Geist könnten wir nie gewinnen. Aber dieser Krieg findet nicht nur auf dem Schlachtfeld statt, sondern im ganzen Land. Man muss überall im Land kämpfen, reformieren, umstrukturieren, das Leben der Menschen verbessern.

Wo würden Sie sagen, ist die Grenze zwischen Patriotismus und Nationalismus autoritärer Prägung?

Ukrainer sind sehr friedliche Menschen. Aber wenn auf ihrem Land ein Feind ist, mobilisieren sie, um ihre Häuser, ihr Land, ihre Heimat zu schützen. Ich bin sehr optimistisch, was die Zukunft angeht. Aber es liegt viel Arbeit vor uns. Jetzt gibt es eine neue ukrainische Regierung. Hoffen wir, dass sie erfolgreich sein wird.

Würden Sie sagen, dass mit der neuen Regierung eine neue Ära angebrochen ist? Was ist Ihre größte Herausforderung?

Also die größte Herausforderung ist das Parlament. Dieses Parlament entspricht nicht dem Willen der Ukrainer – gewählt mit einem veralteten Wahlrecht. Wir brauchen ein neues Wahlgesetz. Rasch. Ich denke nicht, dass dieses Parlament lange überleben wird. Das ist aber ganz normal. Wir sind ein sehr junger Staat. Wir lernen. Die heutige Regierung ist auf jeden Fall besser als die Regierung davor. Aber sehr vieles wird an der Zusammenarbeit zwischen Präsident und Premier liegen. Nach der letzten Verfassung lag die Macht ja beim Präsidenten. Poroschenko sieht sich als starker Präsident. Aber laut Verfassung ist der Premier der Entscheidungsträger. Da müssen die Zuständigkeiten geklärt werden.

Der ukrainische Wähler ist doch ein eher misstrauischer. Was glauben Sie, muss ein Politiker in der Ukraine tun, um das Wählervertrauen zu halten?

Um das Vertrauen zu haben, muss man sehr hart arbeiten und auch Änderungen herbeiführen. Reformen. Wir brauchen sehr eingehende Reformen. Strukturreformen. Was Sicherheit, Bildung, Gesundheitsversorgung angeht. Wir sagen, wir wollen in die EU. Was hindert uns daran, diese Reformen jetzt durchzuführen?

Sehen Sie das Risiko, dass das Drängen der Ukraine in die EU letztlich zu nichts führt, weil sich die EU nicht dazu durchringen wird, die Ukraine aufzunehmen?

Es ist schwierig zu sagen, was in der Welt passieren wird. Es gibt erfolgreiche Beispiele von Ländern, die in Russlands Einflussbereich waren, die heute bei Europa sind: Litauen, Estland, Lettland, Polen. Die Ukraine hat große Hausaufgaben. Und die werden nicht in Brüssel gelöst.

Aber gesetzt den Fall, die EU entscheidet sich gegen die Ukraine. Was wird das in der Ukraine auslösen?

Die EU wird diese Entscheidung nicht treffen. Ob wir zur EU gehören oder nicht, werden letztlich wir entscheiden. Es liegt an uns. Und dazu müssen wir sehr viel tun. Die EU braucht eine starke Ukraine. Und stark können wir nur selbst werden.

Der Präsident hat das Ziel vorgegeben, 2020 einen Beitrittsantrag zu stellen. Ist das realistisch?

Theoretisch ja.

Lemberg liegt seit 2005 an der Schengengrenze. Wie hat sich das auf die Region ausgewirkt?

Das hat für die Region an sich nichts geändert. Es gibt halt dieses Visaregime. Es ist ein absurdes Regime. Wie kann es sein, dass die Bürger Venezuelas oder Paraguays frei in die EU einreisen können und die Ukrainer nicht? Also: Der Kaffee ist in Lviv besser als in Wien, würde ich sagen. Wir werden alle frei geboren und dann werden für manche Menschen solche Rahmen gesteckt. Für die, die im Westen arbeiten wollen, ist dieses Visum ohnehin kein Hindernis. Das Visum ist nur ein Hindernis für Wissenschaft und Studenten.

Weihnachten ist nicht weit: Wenn Sie sich von der EU etwas wünschen könnten, was wäre das?

(Denkt sehr lange nach) Wenn die Ukraine in diesem Krieg mit Russland steckenbleibt, dann wird das auch die Zukunft der EU beeinflussen. Wenn die Ukraine gewinnt, dann wird auch die EU gewinnen, wenn die Ukraine verliert, wird auch die EU verlieren. Wenn die EU das nicht versteht, werden auch für die EU sehr schwierige Zeiten anbrechen.

Sehen Sie das Risiko, dass die Ukraine im Konflikt mit Russland letztlich von der EU fallen gelassen wird?

Russland versteht nur die Sprache der Macht. Und so muss man mit Russland auch umgehen. Wenn man das nicht tut, versteht es Russland nur als Schwäche und macht weiter. Ein beliebiges Dokument, das Russland unterzeichnet, ist nicht mehr wert als das Papier. Das sind nicht meine Worte, das sind die Worte Bismarcks.

Es ist ja kein erklärter Krieg, der hier stattfindet. Was findet da statt?

Das ist ein ukrainisch-russischer Krieg. Der erste ukrainisch-russische Krieg. Als solcher wird er in den Geschichtsbüchern stehen. Tausende russische Bürger sind gefallen. Sie kamen und kommen illegal über unsere Grenze. Sie haben Waffen gebracht. Und nur wegen des Einsatzes patriotischer Menschen ist der Feind jetzt dort, wo er ist, und nicht weiter westlich.

Was macht einen ukrainischen Bürger für Sie aus? Ist es die Sprache? Ist es die Religion?Was macht einen Österreicher im Unterschied zu einem Deutschen aus? Es ist die Erde, auf der du geboren wirst. Dazu gehören Religion, Sprache. Auf dem Gebiet der Ukraine leben sehr viele Ethnien. Aber sie nennen sich Bürger der Ukraine.

Aus diesem Selbstverständnis heraus – wie kann eine Versöhnung mit den Menschen im Osten aussehen?

Hätten wir keine russische Besatzung, würde das sehr schnell gehen. Ich sehe da kein Problem. Es ist ein künstlich gemachtes Problem. Es ist ein Informationskrieg. Aber ohne russische Militärs würde sich das Problem von selbst lösen.

Aber dieser Medienkrieg hat ja Auswirkungen und viele Menschen verstehen die Regierung in Kiew als Junta. Wie kann man die besänftigen?

Schritt für Schritt. Ein Allheilmittel gibt es dafür nicht.

Denken Sie, dass es dazu bald kommen wird?

Einen Krieg kann man nicht einfach stoppen. Der wird entweder gewonnen oder verloren. Viel hängt an den Reformen in der Ukraine. Am Mut der Regierung. An der Stärke der EU und der USA.

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